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Nachtzug

Titel: Nachtzug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood , Gareth Wootton
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Fahrplan mehr einhielten; die Menschen ließen ihre Blicke wie geistesabwesend durch das fahle Morgenlicht schweifen.
    Hans Keppler, dessen Nase und Wangen vor Kälte rot angelaufen waren, stampfte kräftig mit den Füßen auf dem Bahnsteig auf, um sich zu wärmen. Dies war wirklich der schlimmste Winter, den er je erlebt hatte, und nicht einmal sein schwerer Militärmantel konnte die Kälte von ihm fernhalten. Keppler reckte noch einmal den Hals, um die Gleise entlangzublicken. Möglicherweise war es ja auch gar nicht die eisige Morgenluft, die ihn frösteln ließ, dachte er, sondern die Kälte, die sich in seiner Seele ausbreitete. Dies war nicht der erste harte Winter in Polen, aber SS -Rottenführer Hans Keppler hatte niemals zuvor einen Wintertag als eisiger empfunden.
    Man hörte ein Pfeifen aus der Ferne, und kurz darauf ließ sich schon das gepreßte Zischen einer Lokomotive vernehmen, die langsam in den Bahnhof ratterte. Während die Scheinwerfer der Lokomotive all {20} mählich den Schleier des niederrieselnden Schnees durchbrachen, überlegte Keppler, warum der Zug mit Verspätung eintraf. Vielleicht hatte man ihn auf ein Nebengleis umgelenkt, um andere Züge, die aus dem Norden kamen, durchzulassen. Während er auf dem Bahnhof gewartet hatte, hatte er drei Güterzüge aus Richtung Krakau durchfahren sehen. Mit ihren versiegelten Waggons waren sie durch den Bahnhof gerumpelt, unterwegs zu Orten der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung, wovon das schrille Pfeifen der Lokomotive unheilvoll kündete. Das einzige, was sie zurückgelassen hatten, waren die Schneehaufen neben den Gleisen, die durch den beiseite gepflügten Schnee entstanden waren.
    Von den wenigen schweigsamen Reisenden, die auf dem eisigen Bahnsteig warteten, wußte Keppler als einziger, was in den finsteren Zügen transportiert wurde.
    Als der Zug in den Bahnhof einfuhr, nahm SS -Rottenführer Keppler seinen Koffer und ging schnell zur Waggontür, wo er dem Schaffner seine Papiere zeigte. Dieser forderte ihn nach sorgfältiger Prüfung zum Einsteigen auf. Während er sich mit seinem sperrigen Koffer durch den engen Gang zwängte, warf Keppler einen kurzen Blick in jedes der Abteile. Er wollte unbedingt ein Abteil für sich alleine und zweifelte gleichzeitig, ob die Ablenkung durch andere nicht doch der Beschäftigung mit seinen eigenen Gedanken vorzuziehen war. Beim vorletzten Abteil blieb er kurz stehen und ließ seinen Koffer los, um ihn in die andere Hand zu nehmen. Drinnen saßen sich vier Wehrmachtssoldaten auf zwei Holzbänken gegenüber. Sie hatten es sich bequem gemacht und ließen leise eine Flasche kreisen.
    Als er den zögernden Keppler auf dem Gang bemerkte, riß einer der Soldaten, der gerade seine Stiefel polierte, den Arm hoch und rief:
    »Heil Hitler!«
    Keppler blickte nun ebenfalls den Soldaten an und starrte auf das zarte Gesicht, das so jung war wie das seine, und erwiderte
     murmelnd:
    »Hitler!«
    »Wollen Sie sich zu uns setzen, Herr Rottenführer?«
    Keppler schüttelte den Kopf. »Nein, danke, es warten noch ein paar Freunde auf mich …«
    »Sind Sie auch auf dem Weg an die Front?«
    Keppler hob sein schweres Gepäck hoch, trat einen Schritt zurück und {21} entgegnete dann mit schwacher Stimme: »Nein, ich habe Urlaub. In Krakau werde ich umsteigen und den Zug nach Sofia nehmen.« Während er sich entfernte, konnte er den Blick nicht von dem Gesicht des jungen Soldaten lösen. An die Front, hatte er gesagt. Die Front! Mit welch einem Stolz hatte er dieses Wort ausgesprochen! Der Gedanke an den Ruhm hatte seine Augen leuchten lassen! Hans Keppler erkannte sein eigenes Gesicht wieder, wie es vor achtzehn Monaten wohl gewirkt haben mußte. Seinen Idealismus. Seine Begeisterung.
    Er machte kehrt und taumelte zum nächsten Abteil, das zu seiner unendlichen Erleichterung leer war.
    Dort nahm er Platz und legte seinen Koffer neben sich auf die Bank. Er drückte die Stirn gegen das Fenster. Dann vernahm er das Zischen der Luftdruckbremse, und mit einem Ruck setzte sich der Zug in Bewegung. Der Aufenthalt war überraschend kurz gewesen, und es waren nur wenige Passagiere zugestiegen. Es war eben nicht die Zeit für große Reisen. Wohin hätte man auch fahren sollen?
    Während der Zug langsam beschleunigte, drückte Keppler sein Gesicht weiter gegen das kalte Glas und starrte immer noch durch das Fenster in den finsteren Morgen. Er bemühte sich, seine Gedanken auf Sofia zu richten, seine Geburtsstadt, in der er seine Kindheit

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