Nachtzug
und die schönsten Jahre seines Lebens verbracht hatte. Er versuchte, sich den Anblick der Weichsel im Sommer ins Gedächtnis zurückzurufen, in der er immer mit anderen Spielkameraden geschwommen war. Die Weichsel im Frühjahr, deren anschwellendes Hochwasser stets für helle Aufregung gesorgt hatte, trat vor sein geistiges Auge und die Weichsel im Winter in dem Zustand, in dem sie sich nun wohl befand: zugefroren, von einer dicken Eisschicht bedeckt, so daß man darauf Schlittschuh laufen konnte. Dann dachte er an seine Großmutter, eine herzliche alte Dame, eine Polin, die eine kleine Backstube besaß und in deren Herz ihr Enkel stets einen besonderen Platz einnahm – egal, welche Uniform er trug. Hans Keppler seufzte auf. Welche Ironie, dachte er, daß er zwei Jahre zuvor noch geglaubt hatte, das Anlegen dieser Uniform bedeute einen Höhepunkt in seinem Leben. Und nun mußte er feststellen, daß die Totenkopfinsignien ihm eigentlich nur ängstliche Blicke oder Gelächter hinter seinem Rücken einbrachten und eine unüberbrückbare Kluft zu den anderen darstellten, die jede Freundschaft ausschloß.
{22} Er kniff die Augen zusammen, um die Erinnerungen zu vertreiben, die er mit sich trug, und wußte doch, daß es vergebens war. In seinem Ringen mit sich selbst fühlte Keppler sich wie ein angeketteter Hund, der immer wieder dieselben Runden dreht. All sein Grübeln und Sinnen in den letzten, für ihn so schweren Monaten hatte ihn nicht einen Schritt weitergebracht. Es gab keine Lösung, und immer wieder drängte sich ihm die Frage auf: Wie hatte es dazu kommen können?
Stets kehrte er an den Ausgangspunkt seiner Überlegungen zurück und begann dann erneut, sich die letzten zwei Jahre seines Lebens mit allen Etappen vor Augen zu führen, so als hoffte er, auf den Moment zu stoßen, ab dem das Verhängnis seinen Lauf genommen hatte.
Als Kind eines deutschen Vaters und einer polnischen Mutter war er vor zweiundzwanzig Jahren in Sofia zur Welt gekommen, einer kleinen Stadt genau zwischen Warschau und der tschechoslowakischen Grenze gelegen, und hatte die ersten zwölf Jahre seines Lebens in dieser ländlichen Gegend an der Weichsel verbracht. Dann war sein Vater, ein Hütteningenieur, mit seiner Familie nach Essen in Deutschland gezogen, wo er eine bedeutende Position bei Krupp bekleidete, so daß er seinem einzigen Sohn das behagliche Leben des gehobenen Mittelstands bieten konnte. Einige Zeit nachdem Hans in die Hitlerjugend eingetreten war, hatte er den Wunsch geäußert, später zur Wehrmacht zu gehen, und sich dabei von allerlei Gedanken an das Eiserne Kreuz und andere ruhmreiche Auszeichnungen leiten lassen, die ihn in seinem patriotischen Idealismus noch bestärkten. Doch sein Vater, der mit seinem Sohn Höheres im Sinn führte, hatte darauf bestanden, daß Hans weiterhin zur Schule ging, bis sich ihm eine bessere Perspektive bot.
Und diese »bessere Perspektive« hatte sich ihm auch schon bald eröffnet, indem er sich zur SS gemeldet hatte und angenommen worden war, jedoch nicht in der Schutzstaffel, dieser Eliteeinheit in ihren schicken schwarzen Uniformen, deren Anblick bei jedermann Schaudern und Bewunderung zugleich hervorrief, sondern in der kurz zuvor gebildeten Verfügungstruppe, deren Verbände später im bewaffneten Zweig der SS aufgingen. Diese dann als Waffen- SS bekannte Untergliederung war gerade erst durch Freiwilligenanwer {23} bung verstärkt worden, um den zunehmend steigenden Bedarf an Kämpfern an der unlängst eröffneten russischen Front zu decken. Und auch wenn Hans Keppler nicht die begehrte schwarze Uniform trug und er sich in der Rangordnung relativ weit unten befand, so zierte ihn immerhin doch das Totenkopfemblem an der Mütze, und er war dem »Reichsführer SS « Himmler unterstellt.
Wie stolz war er gewesen, als er den Gestellungsbefehl erhalten hatte, ein unbekümmerter, von Selbstvertrauen überschäumender junger Mann mit hohen Stiefeln, von Idealen bewegt und darauf brennend, dem Führer zu dienen. Er sah sie noch vor sich, seine Eltern, wie sie sich achtzehn Monate zuvor mit einem strahlenden Lächeln am Bahnhof von ihm verabschiedet, ihn umarmt und getröstet hatten. Hans hatte an diesem sonnigen Tag seinem Vater und seiner Mutter immer wieder beteuert, daß er mit dem Eisernen Kreuz zurückkehren und es einen Ehrenplatz über dem Kamin einnehmen werde, um dort die Bewunderung von Freunden und künftigen Generationen auf sich zu ziehen.
Während er, dem
Weitere Kostenlose Bücher