Nackt schlafen ist bio
Dave, dem Mann, der meinen Kommentar mit den Smiley-Aufklebern nicht verstanden hatte. Dave war in den Dreißigern, etwa 1,90 Meter groß und schon sein Leben lang ein Veganer. Obwohl er sich soeben durch einen ganzen Rucksack voll rohem Gemüse gefuttert hatte, wirkte er trotzdem noch unterernährt. Aber es gefiel mir, mit welcher Entschiedenheit er die trockenen Bagels ablehnte, und was ihm an Sinn für Ironie fehlte, machte er durch seine Liebenswürdigkeit wett. Er war einer jener Menschen, denen man sich instinktiv öffnet, jemand mit der seltenen Gabe, unumstößlich von etwas überzeugt zu sein, ohne dabei jemandem zu nahe zu treten.
Ich kam zu dem Schluss, dass diese beiden vermutlich die Normalsten in unserer Reisegruppe waren, und bemühte mich deshalb gleich zu Beginn, Anschluss an sie zu finden. Nach einem gemeinsamen Abendspaziergang – Chris fotografierte gern und wollte ein paar künstlerische Aufnahmen von Portland machen – entschieden wir uns, als wir in der Nähe ein vegetarierfreundliches Sushi-Restaurant entdeckten, noch einmal essen zu gehen, ehe es früh am nächsten Morgen losgehen sollte. Es würde mein letztes Glas Wein für diese Woche sein, was mich gar nicht froh stimmte. Ich spielte sogar mit dem Gedanken, mir eine Weinschorle aus verdünntem Merlot in meine Wasserflasche zu füllen (es würde wohl aussehen wie ein Beeren-Fruchtdrink); aber am Ende dachte ich mir, dass es nicht nur fürchterlich schmecken, sondern mich auch reif für einen Podiumsplatz bei den Anonymen Alkoholiker machen würde. Ich bestellte mir noch ein Glas und versuchte mich darauf zu konzentrieren, was Dave sagte – ja, worum ging es da eigentlich? Oje, er beschwerte sich bei der Kellnerin. Sie hatte ihm eine Misosuppe mit Fischbrühe gebracht.
8. AUGUST , 161. TAG
Lauwarm duschen
Ich liebe es, richtig heiß zu duschen, sodass es schon fast wehtut und die Haut schier aufschreien möchte. Zugleich fühlt man sich aber bis auf die Knochen durchgewärmt und nicht nur sauber, sondern desinfiziert. An diesem Morgen erlebte ich die beste Dusche meines Lebens – doch die war lauwarm. Ich befand mich auf der Sunbow Farm in Corvallis, Oregon. Dort hatte Harry, der Besitzer, eine solarbetriebene Außendusche für seine Arbeiter installiert. Tags zuvor war es bewölkt gewesen, und einige andere Tourteilnehmer hatten schon vor mir geduscht, deshalb würde das Wasser nicht mehr kochend heiß sein. Die Mitreisenden hatten mich darauf aufmerksam gemacht, aber meine Schmutzschicht grenzte schon an Ungepflegtheit. Ich sah aus, als wäre ich der Neandertalerausstellung des hiesigen Museums entsprungen, und es war höchste Zeit für eine gründliche Wäsche. Eins der Mädchen zeigte mir, wo sich die Dusche befand und wie sie funktionierte, und ließ mich dann allein. Ich zog den Jutevorhang vor, der nur etwa bis auf Schulterhöhe reichte, aber die entscheidenden Partien weiter unten verdeckte, drehte den Hahn auf und stellte mich vorsichtig in die Nähe des Wasserstrahls. Dann wandte ich mich um – und schnappte unvermittelt nach Luft, nicht weil die Dusche so kalt war, sondern weil ich über weite, wogende Amaranth-, Quinoa- und Gerstenfelder blickte, während der Himmel in einem überwältigenden Blau erstrahlte, die weißen Wolken wie Popcorn aufplatzten und eine leichte Brise Frühstücksgeräusche aus der Ferne herübertrug. In diesem Augenblick war einfach alles perfekt. Und da fasste ich auf der Stelle den Entschluss, »heiß« durch »warm« zu ersetzen – jede Dusche sollte künftig genau diese Temperatur haben.
Ach ja, Sunbow. Die Hälfte der Radtour lag bereits hinter mir, als ich zum ersten Mal glücklich war, dabei zu sein. Auch die vorherigen Tage hatten durchaus ihren Reiz gehabt: idyllische Landschaften, kräftiges In-die-Pedale-Treten, sogar ein ungewöhnlicher Besuch von einem Bio-Milchbauern – aber ich musste erst noch mit all den Leuten hier warm werden. Der zweite Tag war ein ganz besonderer Reinfall gewesen, ja, er bescherte mir sogar Albträume. Wir übernachteten in Salem (im Nachhinein betrachtet: sehr passend!), in einer Siedlung namens Pringle Creek, einem supergrünen Vorzeigeprojekt, das komplett am Reißbrett entworfen worden war und sich im letzten Baustadium befand. Alles dort entspricht höchstem Öko-Standard, sämtliche Häuser haben Sonnenkollektoren, das Holz ist ausnahmslos recycelt oder stammt aus nachhaltiger Forstwirtschaft, die Wärmedämmung besteht zu 100 Prozent aus
Weitere Kostenlose Bücher