Nackt unter Wölfen
uns die Füße. Zum Glück regnete es nicht. Träg krochen die Viertelstunden dahin. Die Zeiger an der Turmuhr des Tores schienen stillzustehen. Ewig währte es, bis eine Stunde vergangen. Wir wurden müd und matt. Immer noch war es Mittag. Wenn es nur erst Nachmittag wäre. Vielleicht finden sie ihn bald? Vielleicht lassen sie uns am Abend abrücken, und wir brauchen in der Nacht nicht zu stehen? … Einer lehnt sich an den anderen. Man stützt sich gegenseitig. Mancher setzt sich heimlich zwischen seinen stehenden Kameraden nieder. Der Blockälteste »sieht« es nicht. Aber der Warnruf »Achtsehn!« scheucht alles wieder hoch. Ein Scharführer geht durch die Blocks und kontrolliert. Sie stehen ausgerichtet auf Vordermann und Seitenrichtung. Tadellos. Wir grinsen innerlich vor Schadenfreude, dass er »unverrichteter Dinge« wieder abzittern muss nach der Blockführerstube. Wir sind wieder allein und stehen. Wie spät ist es? Kaum 5 Minuten ist es her, dass man auf die Uhr gesehen hat, es scheinen Stunden zu sein. Dort macht einer schlapp. Er taumelt nach vorn und wird aufgefangen. Mit eingebogenen Knien hängt er zwischen den haltenden Armen der Kameraden. Man versucht, ihn aufzurichten. Doch die Beine versagen, sie knicken immer wieder ein. So legt man ihn denn neben den stehenden Block. Schiebt ihm noch eine zusammengeknüllte Jacke als Kopfkissen unter. Einer hat ihm das Hemd geöffnet und ihm Luft verschafft. Seine Nase wird spitz und wachsbleich das Gesicht. Er atmet stoßweise. »Der geht kaputt«, meinen die Erfahreneren. Wir stehen. Wieder hat sich eine Stunde träge davongeschleppt.Wir stehen … Jetzt sind es schon mehrere, die schlappgemacht haben. Auch die Kräftigsten spüren es in sich, die Glieder sterben ab, der Rücken schmerzt, als säßen Messer zwischen den Rippen. Die Schultern tun weh, die Arme hängen schlapp. Wenn man nur ein paar Schritte gehen könnte, um das tote Blut wieder in Bewegung zu bringen … »Achtsehn!« Der Scharführer kommt wieder. Er bleibt vor einem der Zusammengebrochenen stehen, drückt ihm prüfend die Stiefelspitze in die Seite und befiehlt ihm aufzustehen. Der Kranke bemüht sich, dem Befehl nachzukommen. Aber er ist zu schwach und sinkt immer wieder zurück. Doch der Scharführer gebietet den Zunächststehenden, den Kranken aufzunehmen. Sie gehorchen und nehmen ihn rechts und links zwischen sich. Jetzt »steht« er mit. Aber es ist nur ein Hängen und Schaukeln. Die Beine versagen, der Kopf fällt nach vorn. Immer wieder sackt er zusammen und muss hochgerissen werden. Wenn sie ihn auf die Beine stellen, knickt er ein wie ein leerer Schlauch. Es ist, als hätte er keine Knochen mehr im Leibe. Und wir stehen … Endlich, nach 8 Stunden, kommt Leben in die müden Knochen. Es pfeift! Es pfeift wie toll an allen Ecken. Fern und nah, überall ertönt das Pfeifen. Sie haben ihn! Sie haben ihn! Die Nacht ist gerettet. Die Knochen straffen, die Hälse recken sich. Sie haben ihn! Ein erlöstes Raunen geht durch die Blocks. Alles schaut nach der Richtung, aus welcher sie ihn vermutlich bringen werden. Tot oder lebendig, das ist ja so gleichgültig, die Hauptsache ist, dass sie ihn haben …
Die ersten Scharführer kommen an mit ihren Schweißhunden. Man vergisst, auf die Uhr zu schauen, denn jetzt vergeht die Zeit. Noch einige Scharführer kommen, die zerrenden Hunde an der Leine, den Karabiner vorn quer vor der Brust. Und dort, am Ende des Zaunes, lärmt es auf. Sie bringen ihn! Ein johlender Haufen von Scharführern rennt am Zaun entlang zum Tor, knüppelschwingend! Ihnen voran,torkelnd und taumelnd, etwas, das einem Menschen ähnlich sieht. Der Flüchtling, von Hunden umrast und angesprungen. Er fällt, Hunde und Scharführer reißen ihn wieder hoch mit Gebell und Geschrei und Geknüppel. Er torkelt weiter, vornübergebeugt, die Arme schützend gegen die anspringenden Hunde und prellenden Knüppel der Scharführer erhoben. Seine zerfetzte Kleidung flattert wie ein Harlekinkostüm in Streifen und Bändern um den blutenden Körper. So wälzt sich die Kavalkade den Zaun entlang, durch das Tor, ins Lager herein. An der Mauer des Bunkers bleibt der Flüchtling mit dem letzten Rest seiner Kraft kleben, sinkt dann aber wie ein Sack in sich zusammen. Gierig verbeißt sich das Rudel der Schweißhunde in seinen Körper. Vielleicht ist der Flüchtling schon tot? Wohl ihm! Wir empfinden keinen Hass mehr gegen ihn, wenn wir auch einen ganzen Tag seinetwegen gestanden haben. Sosehr wir
Weitere Kostenlose Bücher