Nackt unter Wölfen
Auf einmal zerriss die Trillerpfeife des Blockältesten die Stille des Schlafsaales: »Aufstehen! Fertigmachen zum Appell!«
Der Block rumorte auf. Schlafverstört kroch man aus den Betten. Im trüben Licht der Nachtbeleuchtung tappte man nach seinen Klamotten. Hinein in die nassen und steifen Lumpen. Der bettwarme Körper begann wieder zu zittern. Nur mit Mühe konnte man die nassen Schuhe anziehen. Dann marschierten wir in nebelverhangener Nacht durch Schlamm und Schlick zum Appellplatz. Grell peitschten dieScheinwerfer des Tores ihr unbarmherziges Licht in die Augen. Sie schrien uns ins Gesicht, diese verfluchten Scheinwerfer. Müde und in der Nachtkälte zitternd, drängten wir uns auf dem Appellplatz zusammen, Block um Block. Und wenn das gesamte Lager aufmarschiert war, kam der Befehl: »Abrücken«. Stumpfsinnig ging es zurück. Man torkelte wieder in seine Baracken. Wie schwer war es, in der Übermüdung, die nassen Sachen vom Leibe zu bekommen. Während des Auskleidens schlief man bereits, und schlafend kroch man zurück in das kaltgewordene Bett. Wie lange hatte man geschlafen? Eine Stunde oder zehn? Man wusste es nicht, wenn man aufschreckte, weil wieder die Trillerpfeife schrillte: »Aufstehen! Tempo, Tempo! Appell!« Da fluchte man, oder manche lachten auch in verzweiflungsvoller Resignation. Also noch einmal hinaus. Jetzt regnete es sogar. Ja, es regnete und rauschte. Und das Wasser verwandelte das Lager in einen braunen See. Wieder kroch man in die kalten Klamotten. Wieder quälte man sich in die nassen und steifen Schuhe hinein. Durch reißende Wasserbäche watete man und kam nass bis auf die Haut auf dem Appellplatz an. Es war verboten, sich gegen den Regen durch eine Decke oder einen papiernen Zementsack zu schützen. Was hätte es uns auch genutzt?
Die Decken brauchten wir ja zum Schlafen. Zum Schlafen? Es musste wohl bald Morgen sein? Vielleicht lohnte es sich gar nicht mehr, wieder zu Bett zu gehen. Wer weiß, wie lange man stehen musste. Aber das Kommando zum Abrücken kam bald. Zum Auswringen nass waren die Sachen. Nass das Hemd, nass die zerrissenen Strümpfe. Schlafen, nur schlafen! Das Bett war noch ein wenig warm, und die Poren der nassen und durchkälteten Haut sogen die Wärme gierig auf. So schlief man wieder ein. Schlief, schlief, bis man plötzlich aufschreckte: War es im Traum geschehen, dass die Pfeife geschrillt hatte? Man sah um sich. Da und dort fuhrensie auf und lauschten, aber die Pfeife grellte zum zweiten Male durch den Schlafsaal: »Raus aus den Betten!« Noch einmal Appell! Verflucht, verflucht! Welch eine Nacht! Zum dritten Mal in die nassen Kleider. Zum dritten Mal hinaus in die Nacht in Nebel und Regen und Kälte … Hatte es wenigstens mit regnen aufgehört? Es rauschte nicht mehr. Nein! Ein Sprühregen empfing uns, wie aus einem Gebläse getrieben, und durchschauerte die stumpfen Glieder. Noch einmal zum Appellplatz hinauf. Noch einmal in das schreiende Licht der Scheinwerfer hinein. Noch einmal stehen im Schlamm und Regen. Noch einmal zurück in die Blocks und in die Betten. Und wenn dann der Rest des Schlafes hinweggepfiffen wurde, zum vierten Mal in dieser Nacht, dann war es Morgen. Ein Morgen noch mitten in der Nacht. Doch die Nacht war nun vorbei.
Eine Nacht ohne Schlaf. Der Tag begann. Hinein in den grauenden Morgen. Müd und zerschlagen. Fröstelnd und hungrig drängten wir uns auf dem Appellplatz zusammen. Wir wurden gezählt. Die Blockführer schimpften und fluchten. Die waren munter. Und wenn dann der Ruf ertönte: »Arbeitskommandos antreten!«, dann ging es wieder in einen grauen, hoffnungslosen Tag hinein, und keiner von uns wusste, ob er lebend an diesem Tag zurückkehren würde.
Der Flüchtling
Frühmorgens 10 Uhr kam der Befehl zum Einrücken. Was ist los? Warum rücken wir vorzeitig ein? Ist einer getürmt? Ja, es ist einer getürmt! Auf dem Appellplatz sammelten sich die Arbeitskolonnen und traten blockweise an. Jetzt hieß es: »Stehen«. Stehen, bis der Flüchtling eingefangen worden war. Das konnte lange dauern. 5 Stunden, 10 Stunden, anschließend vielleicht die ganze Nacht.
Das Lager war niemals gut auf einen Flüchtling zu sprechen. Die meisten von ihnen wurden wieder eingefangen. Wegen einer solchen sinnlosen »Selbsthilfe« mussten Tausende leiden, starben hinterher noch viele an den Strapazen des Stehens. Die SS war mit Hunden und Knüppeln unterwegs, den Flüchtling zu suchen. Wir standen. Es wurde Mittag. Der Hunger kam. Wir vertraten
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