Nackt unter Wölfen
ihn, den Ausreißer, gehasst, so sehr empfinden wir jetzt mit ihm als einem Freund und Bruder. Was da oben jetzt geschieht, geht alle an. Dort oben wird wieder einer »fertiggemacht«. Dumpf und stumpf stehen wir und müssen zuschauen, wie sie ihn dort oben zu Ende bringen. In wehrlosem Grimm starren wir zum Tor. Keiner denkt mehr an die durchgemachten Strapazen, keiner fühlt mehr seinen schmerzenden Rücken. Die Gefühle der Tausende schmelzen zu einem einzigen zusammen … Hundertmal schon erlebt. Hundertmal schon in ohnmächtiger Wut nach oben gestarrt, dort, wo sie jetzt ihr Spiel treiben mit einem, der gleich ist mit uns. Mancher schiebt jetzt langsam die Hände in die Taschen, um seine Fäuste zu verstecken. Die erschlafften Gesichter werden finster und hart. Hinter tausend Stirnen schwelt ein Gedanke und funkelt in tausend stummen Augen. Die Scharführer umtanzen mit ihren Hunden das Menschenbündel …
Der Lagerführer kommt, mit ihm der Rapportführer und der übrige Stab. Die Scharführer beenden ihr Spiel und leinendie Hunde an, während die prüfenden Stiefelspitzen der hohen SS-Offiziere in dem Haufen aus Blut und Kleiderfetzen herumstochern. Ein Wink des Lagerführers und 2 Häftlinge schleppen den »Bock« herbei. Schon steht »Sommer«, der Scharführer vom Bunker, bereit, peitschewippend. Im Vorgenuss des kommenden Spieles. Zwei Scharführer zerren das Menschenbündel hoch und werfen den völlig zerdroschenen und zerbissenen Flüchtling über den Bock. Sommers Peitsche saust. 25, 28, 30 furchtbare Hiebe zerfleischen das Gesäß des Unglücklichen. Er rührt sich nicht, er bäumt sich nicht auf im furchtbaren Schmerz. Er liegt, als wäre er schon tot. Vielleicht ist er tot? … Nein, er lebt. Wie grauenhaft: Er
lebt
! Sie reißen ihn vom Bock herunter. Er fällt wie ein Sack zur Erde und kriecht auf allen vieren – geschändet und der letzten Menschenwürde beraubt – zur Wand des Bunkers zurück. Hier bleibt er liegen wie ein verendendes Tier. Ein Scharführer zerrt ihn am Kragen hoch und lehnt ihn kunstvoll an die Mauer. Er scheint an ihr kleben zu bleiben, denn er steht, schaukelnd zwar, mit eingeknickten Knien, aber er steht.
Und vor ihm steht eine Emballage!
… Ein Lattenrost, der übriggeblieben ist von irgendeiner Maschinenlieferung. Da kommt dem Rapportführer Strippel ein glänzender Gedanke. Er bespricht diesen mit dem Lagerführer Rödl, dieser nickt, und Strippel geht zum Mikrophon: »Das Zaunkommando ans Tor!« Wir wissen nicht, was sie da oben vorhaben, aber es muss Ungeheuerliches sein. Das Zaunkommando schlägt den Lattenrost, der gerade so hoch ist, dass ein Mensch mit eingezogenem Kopf darin stehen kann, mit Stacheldraht aus und treibt lange Nägel durch das Holz nach innen.
In diesen Käfig, in diese so hurtig improvisierte »Eiserne Jungfrau« sperren sie den Flüchtling ein … Wäre er doch in den Bunker gekommen, dort könnte er sich wenigstens erhängen, und alles hätte sein schnelles Ende. Hier aberkann er sich nicht einmal anlehnen, wenn er stirbt. Denn er stirbt … Strippel geht wieder zum Mikrophon: »Abrücken!«
Wir wenden uns und recken die steifen Knochen. Langsam ziehen wir zu den Blocks, unsere Kranken mit uns schleppend. Der Herr Lagerführer begibt sich mit seinem Stab zum Kasino, die Scharführer verzetteln sich, der Appellplatz wird leer, das Schauspiel ist zu Ende …
Langsam wird es dunkel, der Abend kommt, die Nacht bricht herein … Einsam steht ein Lattenrost auf dem Appellplatz. Einsam steht ein armer Häftling. Verlassen von Welt und Mensch, und über ihm funkeln die ewigen Sterne. Er ist ganz allein. Noch einen ganzen Tag steht er so und noch eine Nacht. Als wir dann zum Morgenappell antreten, liegt er tot in seiner Mausefalle …
Der 13. Mai 1938 – ein schwarzer Tag im Lager!
Der 13. Mai 1938 gilt als schwarzer Tag in der Geschichte des Lagers Buchenwald. Wir befanden uns an diesem Tage auf Block 30. Die Sonne schien, und der Wald leuchtete in den ersten jungen Farben des Frühlings. Es war ein herrlicher Tag. Die Schönheit der Natur regte auch uns Gefangene an. Doch ergingen wir uns nicht in lyrischen Reflexionen, sondern wir hingen praktischeren Erwägungen nach. »Wenn heute«, meinte ein Kamerad, versonnen in das Grün des Waldes blickend, »wenn heute keiner abhaut, soll es mich wundern.«
Eine leidenschaftliche Auseinandersetzung über die Fluchtmöglichkeiten war die Folge dieses laut gewordenen Gedankens. Die einen bejahten, die
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