Nackt unter Wölfen
anderen verneinten sie. Während wir uns noch erhitzten über die Unmöglichkeiten einer Flucht, wurde es im Lager lebendig. Gefangene rannten über den Appellplatz, Gruppen bildeten sich, Neugierigeliefen herzu, und mit Windeseile verbreitete sich das Gerücht im Lager, dass zweie getürmt seien. Aber noch Tolleres wurde gemunkelt: Die zwei hätten einen SS-Mann erschlagen. Dieses Gerücht lähmte uns und floss bleischwer in die Glieder. Was würde mit uns geschehen, wenn es sich bewahrheitete? Musste sonst das ganze Lager stehen, wenn einer getürmt war, so ließ sich das Kommende nicht ausdenken. Koch, dem Lagerkommandanten, war alles zuzutrauen. Dem kam es nicht darauf an, für einen SS-Mann das halbe Lager umzulegen. Für einen SS-Mann? … Andere wussten bereits zu berichten, dass nicht nur einer, sondern
zwei
Posten erschlagen worden seien. Jawohl, im Kommando Kläranlage sei es geschehen. Der eine Posten sei sogar von einem Häftling erschossen worden. Keiner glaubte es, alle glaubten es. Keiner wusste etwas, alle wussten etwas. Überall wurde erregt geflüstert, überall stand man zusammen und lauschte gespannt den Berichten, und das Gerücht sprang von einem zum anderen, von Block zu Block und zuckte kreuz und quer durchs ganze Lager. Angstvoll schauten wir zum Tor, als könnten wir aus dem Verhalten der Blockführer Schlüsse auf die Wahrheit des Gerüchtes schließen. Aber da oben verhielt sich alles ruhig und normal. Das gab Veranlassung, die ganze Geschichte wieder zu dementieren: Es ist alles Parole, hieß es, niemand ist getürmt, keiner ist erschlagen worden. Nur zu willig gab man sich solchen beruhigenden Äußerungen hin. Ging ein Blockführer durchs Lager, liefen die erregten Gruppen auseinander und verschwanden in ihre Blocks. Oder man zog, wenn man nicht verschwinden konnte, still die Mütze, wie es Pflicht war, und schaute dem SS-Mann verstohlen nach: Was hatte der vor? Wo ging der hin? Was wollte der um diese Zeit im Lager? Die Luft war wie mit Elektrizität geladen, und es lastete auf allen ein so starker Druck, dass einem das Atmen schwer wurde. Wenn man nur Genaues wüsste, aber keiner konnte sagen,was war. Es gab nur Geflüster und Getuschel, Vermutungen und Gerüchte. Eines stand fest: Geschehen war etwas! So ging der Vormittag hin. Gegen Mittag ereigneten sich Dinge, die eine furchtbare Bestätigung der Gerüchte waren. Das Kommando Kläranlage rückte vorzeitig ein. Das war der Beweis von der Wahrheit der Berichte. Wir sahen von unserem Block aus die ersten Häftlinge des Kommandos ankommen. Zu fünfen, sechsen rannten sie, von wütenden SS-Leuten mit Kolbenschlägen vorwärtsgetrieben, am Lagerzaun entlang. Immer neue Gruppen wurden hochgejagt. Die SS schlug und brüllte. Viele Häftlinge taumelten und torkelten wie betrunken. Viele schienen verwundet. Dann kamen größere Trupps, ängstlich zusammengeballt, eskortiert von wütender SS. Wie Rudel zusammengetriebener Tiere rannten die Trupps am Zaun entlang. Zuletzt noch einige Nachzügler, die nicht mehr laufen konnten. Sie hinkten den Berg herauf, und wenn sie zusammenbrachen, wurden sie von wutschäumenden Posten mit Fußtritten hochgejagt. Überallhin traten sie: in den Bauch, an die Geschlechtsteile, ins Gesicht, wohin sie gerade trafen. Furchtbar war es anzusehen, wir konnten die Schreie hören, obwohl der Zaun von uns über 200 Meter entfernt war. So rückte das Arbeitskommando »Kläranlage« ein und sammelte sich vor dem Arrestbunker auf dem Appellplatz. Hier stand das Kommando viele Stunden bis gegen Abend mit erhobenen Armen, die Hände hinter dem Kopf gefaltet: der »Sachsengruß«. Unterdes erfuhren wir den wahren Sachverhalt. Es bestätigte sich die Wahrheit der Gerüchte. Zwei Häftlinge waren geflohen und ein SS-Posten von ihnen erschlagen worden. Kallweit hieß der SS-Mann (er war einer der ärgsten »Schläger« gewesen), Forster und Bargatzki die beiden Geflohenen. Forster war ein ehemaliger Fremdenlegionär und Bargatzki ein BVer (Berufsverbrecher). Auf dem Appellplatz lagen einige Leichen. Unschuldige Opfer der SS. Die Toten hatten mitder Flucht jener beiden nichts zu tun gehabt. Sie waren unter die Gewehrkolben der SS geraten und wahllos zu blutigen Bündeln zusammengeschlagen worden. Ich vergesse nicht, dass einige Blockführer vor diesem Fleischhaufen standen und die Köpfe schüttelten, als wollten sie sagen: Sowas haben selbst wir noch nicht gesehen. Und das will was heißen. Unter den Toten befand sich auch
Weitere Kostenlose Bücher