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Nackt

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Titel: Nackt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Sedaris
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Bank, um drei Zwanziger, einen Fünfer und zwei Einer zu holen. Uta war die Art Mensch, die genau weiß, wie viel sich in ihrem Portemonnaie aufhält. Sie führte Listen über alle Abbuchungen und Eingänge. «Kannst du glauben, dass ich im Osco-Markt siebzehn Dollar gelassen habe? Und wofür? Mit einer winzigen Tüte bin ich wieder rausgekommen.» Sie merkte bestimmt, dass ihr Geld fehlte. Ich konnte ihr nicht sagen, dass Dupont es genommen hatte, denn dann hätte sie geschrien: «Du hast ihn in diese Wohnung gelassen? Und was dann, dann feddert er meine Handtasche, und dir kommt es nicht in den Sinn, ihn davon abzuhalten? Du lässt ihn einfach mein Geld nehmen und zur Tür hinaus tanzen?»
    Wenn ich sie gewesen wäre, hätte ich das genauso empfunden. Hätte ich ihr gesagt, dass Dupont das Geld gestohlen hat, hätte sie wahrscheinlich die Polizei gerufen, und ich hätte die gesamte Konversation noch einmal erlebt. «Und Sie haben ihn das Geld nehmen lassen? », hätte der Beamte gefragt. Wäre der Fall vor Gericht gekommen, wäre ich derjenige gewesen, der irgendwann mal mitten in der Nacht Dupont über den Weg gelaufen wäre, nachdem er seine dreißig Tage – oder was sonst gerade für Kleindiebstahl aktuell ist – abgesessen hätte.
    Ich hätte auch nicht lügen können und Uta sagen, ich sei kurz weggegangen, um eine kleine Besorgung zu machen, und hätte vergessen, die Tür hinter mir abzuschließen. «Du bist ganz kurz was? Warum rollst du nicht gleich einen roten Teppich aus und hängst ein Schild auf, das jeden Gauner in und um Chicago zum Eintreten einlädt, und wo er sowieso schon mal da ist, soll er mir doch bitte auch noch rasch mein letztes Hemd klauen? Die fünfundsechzig Dollar gehen von deinem Gehaltsscheck ab, Mister!» und wieder hätte ich genauso reagiert, wenn ich ein aggressiver oder unverblümter Mensch wäre. Stattdessen bin ich keiner, und deshalb empfand ich echten Hass, nicht auf Dupont oder Uta, sondern auf mich, weil ich beiden gegenüber so schwach und feige gewesen war. Sie hatten sich vorgestellt, jeder auf seine Weise, und ich fand immer, man muss eine Grenze ziehen; man muss sagen, was man denkt, oder sich verteidigen. Man muss tapfer oder ehrlich oder wenigstens irgendwas sein. Es hatte nichts damit zu tun, dass man Menschen ändert …; das kann man sowieso vergessen; an einem guten Tag hat man Glück, wenn es einem gelingt, jemanden zum Sockenwechseln zu überreden. Ich konnte mir auch nicht einreden, dies Verhalten habe mit einem Anstellungsverhältnis zu tun. Mein Rückgrat hat – Gehaltsscheck oder nicht – immer diese butterartige Konsistenz. Im Gegensatz zu anderen Menschen, die ich kenne, wird mein Schweigen nie als Weisheit interpretiert werden. Mich verrät jedes Mal mein Zähneklappern. Als ich zurückkam, waren Uta und Briggs schon wieder an der Arbeit. «Sag mal, David, wir haben gerade eine kleine Wette am Laufen. Wer hat siebenundfünfzig den Wimpel gewonnen?»
    Ich sagte Briggs, ich hätte keinen wie auch immer gearteten Schimmer.
    «Ich bleibe dabei: Es waren die Oreos! », rief Uta.
    «Die Oreos sind Kekse; wenn schon, waren es die Baltimore Orioles, und die waren es auch nicht.» Briggs rollte die Augen und hockte sich hin, um einen neuen Kanister Polyurethan aufzustemmen.
    Ich wartete bis Feierabend. Die Frauen waren nebenan, um ihre Arbeitsklamotten aus- und sich umzuziehen, und ich schlich mich an die Handtasche an, um Utas Geld zu ersetzen. Dabei hatte ich mehr Angst, als wenn ich es gestohlen hätte. Als ich ihre Handtasche öffnete, dachte ich, wie ungerecht es war, dass von allen Beteiligten ausgerechnet ich zahlen musste. Dupont wusste, dass ich ihn nicht davon abgehalten oder ihn verpfiffen hätte. Uta hatte ein halbes Dutzend Mietobjekte und ein dickes Paket Aktien unterm Gürtel. Sie amüsierten sich ganz prima und stellten, was sie sagten oder taten, nie infrage. Was machte sie so selbstsicher und mich nicht? Ich sagte mir, im Gegensatz zu ihnen hätte ich ein Gewissen, aber sobald ich es dachte, wusste ich, dass es eine Lüge war. Wäre es eine Art Güte gewesen, die mich motivierte, so wäre sie mir wurscht gewesen. Stattdessen war es eine weiche und schwabbelige Feigheit, welche die Gestalt von Tugend angenommen hatte.
    Sie war auf Strümpfen, das Portemonnaie war offen, das Radio plärrte, und ich hörte nicht, wie Uta hinter mir herantrat. «Was machst du da mit meinem Geldbeutel?», fragte sie. «Zahle ich dir etwa nicht genug; ist es das?»

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