Nackt
Sie formte mit den Händen einen Schalltrichter vor dem Mund: «Hey, Briggs, komm mal her. Ich hab gerade unseren Freund erwischt, wie er mein Portemonnaie durchsucht.»
Die Luft wurde aus dem Raum gesaugt, durch die offenen Fenster und den Spalt unter der Tür, und hinterließ ein Vakuum. «Dann erzähl doch mal, Freundchen. Was genau suchst du denn?»
Der Geist spielt dem Gedächtnis Streiche. Die Zeit gerät aus Bequemlichkeit in Schieflage. Ereignisse werden komprimiert, damit sie besser wirken, oder sie werden gedehnt, damit sie falsch verstandenem Triumph Platz bieten. Da dies so ist, wie es ist, ist es schwer, genauere Angaben zu machen, aber mir kommt es vor, als hätte ich etwa fünfzehntausend Jahre stockstill auf demselben Fleck gestanden und nach einer Antwort auf ihre Frage gesucht.
Asche
S obald mir klar wurde, dass ich bis an mein Lebensende homosexuell sein würde, zwang ich Bruder und Schwestern, einen Vertrag zu unterschreiben, in dem sie schworen, nie zu heiraten. Es gab eine Klausel, die ihnen gestattete, mit jedem Menschen ihrer Wahl zusammenzuleben, solang sie es nur nicht amtlich machten.
«Was ist mit Kindern?», fragte meine Schwester Gretchen und ließ sich einen Löschpapierschnipsel LSD unter die Zunge gleiten. «Kann ich nicht nicht heiraten und trotzdem ein Baby kriegen?»
Ich stellte mir das Kind vor, wie es mit fünfzehn Händen nach dem Mobile schlug, das über seinem Bettchen hing. «Klar kannst du Kinder haben. Nun nimm deinen Augenbrauenstift und unterschreib auf der punktierten Linie.»
Meine Befürchtung war, dass meine Schwestern, einmal verheiratet, der Familie den Rücken kehren würden und es vorzogen, Ferien und Feiertage mit ihren Männern zu verbringen. Eine nach der anderen würden sie uns verlassen, bis nur noch ich und meine Eltern übrig waren, vor dem Fernseher, ein jegliches den Truthahn mit Füllsel vom eigenen Tablettchen essend. Es war nicht schwer, die Unterschriften zu kriegen. Die Mädchen in meiner Familie spielten nicht Puppenhaus mit Puppenherd; sie spielten Puppenbesserungsanstalt mit Puppenberuhigungszelle. Eines Tages mochten sie durchaus eine Beziehung eingehen …; wenn es passierte, passierte es, aber sie sahen keine Veranlassung, sich deshalb zu verbiegen. Mein Vater sah das anders. Er sah den Ehestand als ihre bestmögliche Berufung, als etwas, für das sie üben und das sie sich als Ziel vor Augen halten sollten. Eine meiner Schwestern stand z. B. gebeugt vor dem offenen Kühlschrank, im Badeanzug, und mein Vater wog sie mit den Augen. «Sieht aus, als hättest du ein paar Pfund zugenommen», sagte er. «Mach so weiter und du findest nie einen Mann.» Findest. Er sagte das, als wären Männer exotische Pilze, die im Wald wachsen, als bedürfe es eines geschärften Blicks, um einen zu entdecken.
«Hör nicht auf ihn», sagte ich. «Ich finde, das Gewicht steht dir sehr gut. Hier, nimm noch eine große Schale Kartoffelchips.»
Unseren Nachbarn bedeutete die Ehe sehr viel, und wir sahen das als weiteren guten Grund, es gar nicht erst so weit kommen zu lassen. «Tja, endlich haben wir Kim verheiratet.» Das wurde immer mit einer solchen Erleichterung gesagt, dass man hätte meinen können, die in Rede stehende Kim sei kein zwanzigjähriges Mädchen, sondern der letzte Welpe eines ungewollten Wurfs. Meine Mutter schaffte es nicht zum Lebensmittelladen und zurück, ohne eingehend die DIN-A5-Fotos irgendeines sabbernden, glupschäugigen Enkels betrachtet haben zu müssen.
«Na, das ist doch mal was anderes», sagte sie. «Ein lebendiges Baby. Alle meine Enkelkinder sind zu Kunstdünger zermahlen worden, oder was man sonst mit abgetriebenen Föten macht. Dadurch habe ich sie zu meinen Füßen, aber nicht am Hals, was mir persönlich sehr entgegenkommt. Hier haben Sie Ihr Bild zurück. Sagen Sie Ihrer Tochter, sie soll unbedingt dranbleiben.»
Im Gegensatz zu unserem Vater fand sie es gut, dass keins ihrer Kinder sich fortgepfanzt hatte. Diese Tatsache verwendete sie in der Nummer, die sie regelmäßig abzog: «Sechs Kinder und keins ist verheiratet. Ich werde meinen Töchtern von dem Geld, das wir an den Hochzeiten gespart haben, einen eigenen Puff bauen.»
Nachdem sie mit ihrem Freund Bob fast zehn Jahre zusammengelebt hatte, annullierte meine Schwester Lisa unseren Vertrag, indem sie ihm das Jawort gab, als er ihr einen Heiratsantrag machte. Um es noch schlimmer zu machen, beschlossen sie, nicht in einer Drive-through-Kapelle in Las Vegas,
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