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Nackt

Nackt

Titel: Nackt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Sedaris
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dachten, den zu vergessen sie sich so bemühte. Und genau das taten wir auch. Das Wissen um ihre Krankheit zwang alles ins Rampenlicht und verlangte, dass alles unvergesslich wurde. Wir riefen unsere Mutter nicht mehr an. Nunmehr nahmen wir den Hörer ab und wählten ihre Nummer, um unsere Mutter (sie hat übrigens Krebs) anzurufen. Bei der Arbeit was dumm gelaufen? Man brauchte nur zu sagen: «Tut mir leid, dass ich vergessen habe, unter den Kissen Ihres sehr schönen, sehr teuren Empire-Sofas staubzusaugen, Mrs. Walman. Ich weiß, wie viel es Ihnen bedeutet. Ich glaube, ich sollte wirklich an wichtigere Dinge denken als ausgerechnet an den inoperablen Krebs meiner Mutter.»
    Wir waren gar nicht krank, aber die Versuchung war einfach zu stark. Hier konnten wir das Mitgefühl abstauben, ohne unter den Symptomen leiden zu müssen. Und Mitgefühl hatten wir doch verdient, oder?
    Wenn wir mit unserer Mutter sprachen, war uns klar, dass jedes Gespräch das letzte sein konnte, und deshalb wollten wir etwas von Belang sagen. Was konnte man sagen, was nicht bereits auf Millionen von Glückwunschkarten und Luftballons gedruckt war?
    «Ich liebe dich», sagte ich am Schluss eines unserer nächtlichen Telefonate.
    «Das will ich aber überhört haben», sagte sie. Im Hintergrund hörte ich, wie ein Streichholz angerissen wurde, wie Eiswürfel in einem erhobenen Glas klirrten. Und dann legte sie auf. Ich hatte so etwas noch nie zu meiner Mutter gesagt, und wenn ich alles noch einmal durchleben könnte, würde ich es wahrscheinlich zurücknehmen. Niemand sprach so, außer Lisa. Es war unsauber, so etwas zu jemandem zu sagen, es sei denn, man wollte Geld oder ins Bett. Das hatte unsere Mutter uns beigebracht, als wir noch nicht größer waren als Partyfässchen. Ich kannte Menschen, die so etwas zu ihren Eltern sagten – «Ich liebe dich» –, aber übersetzt hieß das immer: «Ich würde jetzt liebend gern auflegen.»
    Wir versammelten uns für die Hochzeit, die an einem klaren, frischen Oktobernachmittag stattfand. Die Zeremonie wurde auf einem grasbewachsenen Abhang abgehalten, der eine prächtige Sicht auf die Gipfel ringsum bot, deren Bäume in feurigem Rot und Orange prunkten. Man konnte sich, wenn man bis zum Horizont blickte, leicht vorstellen, dass wir sie waren, die letzten überlebenden Menschen auf dem Antlitz der Erde. Die anderen waren durch Krankheit und Hungersnot ausgelöscht, und wir waren erwählt, eine neue und bessere Welt zu gestalten. Es war ein angenehmer Gedanke, bis ich mir uns bei der Beerensuche oder beim Bad in eiskalten Bächen vorstellte. Bobs Familie, kernig und robust, brachte das wahrscheinlich, aber wir übrigen würden vor uns hinsiechen und sterben, kurz nachdem das Shampoo alle war.
    Mein Vater weinte offen während der Zeremonie. Wir studierten sein verkrumpeltes Gesicht und hatten schwer zu kämpfen, um seinem Beispiel nicht zu folgen. Was sollte diese Gefühligkeit? Meine Schwester heiratete einen freundlichen und rücksichtsvollen Mann, der ihr durch viel Not und Elend hindurch beigestanden hatte. Beide engagierten sich leidenschaftlich für mexikanisches Essen und waren aktive Mitglieder der Nordamerikanischen Gesellschaft der Freunde von Vögeln in Käfighaltung. Die Tacos und Papageien hatten Lisa und Bob ganz für sich allein, aber alles andere an Lisa gehörte uns. Als wir im Halbkreis auf dem Gipfel jenes Berges standen, wurde klar, dass Lisa zwar einen anderen Nachnamen annehmen mochte, aber nie dem Sog unserer Familie entrinnen würde. Durch Heirat kam sie nicht vom Haken, selbst wenn sie wollte. Sie konnte in die Antarktis ziehen und sich in einem unterirdischen Bunker niederlassen –, wir würden sie zu finden wissen. Weglaufen war sinnlos. Ignoriere du nur unsere Briefe und Anrufe; wir suchen dich in deinen Träumen heim. Ich hatte so viele Jahre lang die Ehe für den Feind gehalten, dass die echte Gefahr, als sie in unser Leben trat, mich völlig unvorbereitet erwischte. Die Zeremonie gemahnte an Verlust, aber nicht an den Verlust von Lisa, sondern an den Verlust unserer Mutter.
    «Kein Schnaps?», stöhnte sie. Meine Mutter wankte zum Buffet-Tisch, dessen Klappbeine unter dem Gewicht von kohlensäureversetztem Mineralwasser, Wurstcrackern und koffeinfreiem Kaffee bebten.
    «Keinen Schnaps!», hatte Lisa eine Woche vor der Zeremonie angekündigt. «Bob und ich haben beschlossen, dass wir die Art Hochzeit nicht möchten.»
    «Welche Art?», fragte meine Mutter. «Die

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