Nackt
verschwommen das reizende Hotel erkennen konnten, das sich an den Fuß eines anderen, feineren Bergs schmiegte. Heute hatte sich unsere Familie zum letzten Mal komplett versammelt. Es ist so selten, wenn man etwas wissentlich zum letzten Mal tut: ein letztes Bad nehmen, ein letztes Mal ficken oder die Fußnägel schneiden. Wenn man weiß, dass man es nie wieder tun wird, wäre es vielleicht ganz nett, eine ordentliche Schau draus zu machen. Dies war es dann gewesen, was meine Familie betraf, und es machte mich echt fertig, dass unser letztes Treffen in so einer traurigen Entschuldigung für ein Hotel stattfinden sollte. Mein Vater hatte sich gestattet, Nichtraucherzimmer zu buchen, weshalb wir anderen die ganze Absteige nach Dosen absuchten, die wir als Aschenbecher verwenden konnten. «Was wollt ihr denn noch alles von einem Hotel?», rief er und trat in Unterhose auf den Balkon. «Es ist sauber, im Empfang stehen Automaten für Snacks, die Fernseher funktionieren, und es ist in Autobahnnähe. Wenn euch die verdammte Tapete nicht gefällt, na und? Ihr wisst doch, was ihr für ein Problem habt, stimmt’s?»
«Wir sind verwö-höhnt», riefen wir im Chor.
Wir waren jedoch nicht geizig. Wir hätten liebend gern für besseres mehr gezahlt. Niemand wollte Zimmerservice oder einen beheizten Swimmingpool, nur etwas mit einem bisschen mehr Charakter: vielleicht ein Motel mit indianischem Sujet oder eine der vielen abgelegenen Hütten, in denen als kleine Aufmerksamkeit Verhaltensmaßregeln an der Wand hingen für den Fall, dass einem Bären ins Picknick platzten. Mit unserem Vater zu verreisen bedeutete immer, dass man in überregional bekannten Autofahrerunterkünften absteigen und nur in Fast-Food-Restaurants essen durfte. «Was?», fragte er. «Wollt ihr mir erzählen, dass ihr euch lieber an einen Tisch setzt und etwas zu essen bestellt, von dem ihr nicht wisst, wie es schmeckt?»
Das, äh, das war allerdings genau das, was wir wollten. Andere Leute taten das ständig und die meisten hatten es überlebt und konnten davon berichten.
«Scheißdreck», rief er. «Das könnt ihr doch gar nicht wollen.» Beim Argumentieren war es immer seine Taktik, das zu leugnen, worauf sich unsere Wünsche gründeten. Wenn man, z.B., einen Stapel Pfannkuchen wollte, sagte er einem nicht, man kriegt keine, sondern man will gar keine. Ein Ich weiß doch aber, was ich will! wurde unweigerlich mit einem Weißt du eben nicht! gekontert.
Meine Mutter hatte nie seine Begeisterung für Markennamen-Kultur geteilt, und deshalb hatten sie schon vor Zeiten beschlossen, getrennt in Ferien zu fahren. Sie verreiste meist mit ihrer Schwester und kam aus Santa Fe oder Martha’s Vineyard tief sonnengebräunt zurück, während mein Vater eher dazu neigte, mit Freunden zu angeln oder zu golfen, die wir nie kennengelernt hatten.
Am Abend vor der Hochzeit waren wir in eine ganz entzückende Berghütte gegangen und hatten mit Bobs Eltern zu Abend gegessen. Im Speisesaal fühlte man sich wie irgendwo zu Hause. An den Wänden hingen Bilder von verstorbenen Verwandten und auf dem Kaminsims standen alte Pokale und eine Prozession handgeschnitzter Lockenten. Am Abend nach ihrer Hochzeit waren Lisa und Bob in die Flitterwochen aufgebrochen und wir waren auf uns selbst gestellt. Meine Schwestern, voller Wurst, zogen es vor, auf ihren Zimmern zu bleiben, also ging ich mit Eltern und Bruder in ein Kettenrestaurant an einem hell erleuchteten Stück Autobahn in Stadtrandnähe. Auf dem Weg dorthin kamen wir an Dutzenden von attraktiveren Möglichkeiten vorbei: Steakhäuser, die mit Kaminfeuer und Kerzenlicht prahlten, und Hütten aus Holzschindeln mit diskreten Schildern, auf denen FUTTERN WIE BEI MUTTERN und NUR HIER! stand.
«Wie wär’s denn damit?», sagte mein Bruder. «Ich hab noch nie Eichhörnchen probiert. Klingt doch gut.»
«Ha!», sagte mein Vater. «So gut klingt es um drei Uhr morgens dann aber nicht mehr, wenn du die große Scheißerei hast und dir die Magenwände aus dem Leib kackst.»
In die absonderlichen Restaurants durften wir nicht, weil sie vielleicht keinen Niesschutz über dem Salatbuffet hatten. Vielleicht hatten sie auch keine sauberen Toiletten oder ordnungsgemäß anästhesiertes Personal. Bei so was konnte man gar nicht vorsichtig genug sein. Meine Mutter war immer bereit gewesen, alles auszuprobieren. Hätte es ein Eskimo-Restaurant gegeben, wäre sie freudig in den Iglu gekrochen und hätte mit bloßen Händen rohen Seehund
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