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Nackt

Nackt

Titel: Nackt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Sedaris
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fröhliche? Ihr beide mögt ja völlig aus dem Häuschen sein, aber wir übrigen werden etwas Hilfe brauchen, um uns in die angemessene Stimmung hineinzusteigern.»
    Sie sah nicht so sehr viel anders aus als letztes mal. Die Chemotherapie hatte gerade erst begonnen, und sie hatte – allerhöchstens – vielleicht fünf Pfund abgenommen. Ein flüchtiger Bekannter hätte möglicherweise gar keinen Unterschied bemerkt. Wir bemerkten ihn nur, weil wir wussten, weil jeder auf diesem Berggipfel wusste, dass sie Krebs hatte. Dass sie sterben würde. Es war eine relativ kleine Feier; die beiden Familien waren da, und eine Ansammlung von Lisas Freunden, von denen wir die meisten nicht kannten, aber leicht identifizieren konnten. Das waren die Gäste, die sich kein einziges Mal darüber beschwerten, dass es keinen Alkohol gab.
    «Ich wollte nur, dass Sie erfahren, wie sehr Colleen und ich Lisa lieben», sagte die Frau, die Augen tränenfeucht. «Ich weiß, dass wir einander nie offiziell vorgestellt worden sind, aber hätten Sie was dagegen, wenn ich Sie einfach mal ganz, ganz fest umarme?»
    Mit Ausnahme von Lisa waren wir keine Umarmer. Was Gefühle und Trost betraf, so waren wir der Überzeugung, dass es kein noch so heftiger Körperkontakt mit einem gutgemachten Cocktail aufnehmen konnte.
    «He, Augenblick mal. Wo bleibt meine Umarmung?», fragte Colleen, krempelte ihre Ärmel hoch und schritt zur Tat. Ich blickte über die Schulter meiner Angreiferin und sah, wie eine Frau in bodenlangem Kordsamtrock meine Mutter in einen liebevollen Schwitzkasten zwang.
    «Ich habe gehört, was Sie durchmachen, und ich weiß, dass Sie Angst haben», sagte die Frau und blickte auf den Kopf voller dünner werdender Haare hinunter, den sie mit ihren kräftigen Armen umschlungen hielt. «Sie haben Angst, weil Sie glauben, Sie wären allein.»
    «Ich habe Angst», keuchte meine Mutter, «weil ich nicht allein bin und weil Sie das zerquetschen, was von meiner gottverdammten Lunge noch übrig ist.»
    Das Gruseligste an diesen Menschen war, dass sie nüchtern waren. Bei jemandem, der absolut natternbreit war, ließ sich dies Benehmen entschuldigen, aber die meisten von denen hatten seit Carters Präsidentschaft keinen Drink mehr zu sich genommen. Ich nahm meine Mutter am Arm und führte sie zu einer Bank. Die dünne Bergluft machte ihr das Atmen schwer, und sie ging langsam, mit vielen Pausen. Die Familien machten einen Gang in eine nahe Schlucht, wir saßen im Schatten, aßen Cracker mit Wurst und unterhielten uns wie gesittete Fremde.
    «Die Wurst ist gut», sagte sie. «Sie schmeckt und ist doch nicht zu fett.»
    «Überhaupt nicht fett. Allerdings auch nicht trocken.»
    «Die Cracker ebenfalls nicht», sagte sie. «Sie sind leicht und kross, mit dem echten Buttergeschmack.»
    «Aber ja. Der Geschmack dieser Cracker ist sehr, sehr buttrig. Sie sind flockig, aber doch nicht zu flockig.»
    «Ganz und gar nicht zu flockig», sagte sie.
    Wir beobachteten den Pfad und hofften verlegen, dass jemand uns von der Qual dieser steifen und sinnentleerten Konversation erlöste. Ich hatte immer Angst vor Kranken gehabt und meine Mutter ebenso. Nicht, dass wir befürchteten, uns an ihrer Schlagadererweiterung im Hirnbereich anzustecken oder ihnen aus Versehen die Kanüle aus der Vene zu fetzen. Ich glaube, ihre Stärke flößte uns Angst ein. Kranke erinnerten uns nicht an das, war wir hatten, sondern an das, was uns fehlte. Alles, was wir sagten, klang belanglos und geringfügig; unsere Beschwerden verblassten, verglichen mit ihren, und ohne unsere Beschwerden gab es nichts zu sagen. Meine Mutter und ich waren am Telefon prima miteinander ausgekommen, aber jetzt, von Angesicht zu Angesicht, waren die Regeln geändert worden. Wenn sie sich beschweren wollte, riskierte sie, als kranke Beschwerdeführerin angesehen zu werden, und das sind die schlimmsten. Wenn ich mich beschweren wollte, klang ich vielleicht noch egoistischer, als ich ohnehin schon war. Dieser plötzliche Umschwung im Lauf der Ereignisse hatte uns unserer gemeinsamen Sprache beraubt und überließ uns genau dem Austausch harmloser Artigkeiten, über die wir uns immer lustig gemacht hatten. Ich wollte, dass es aufhörte, sie wollte es, glaube ich, auch, aber wir wussten beide nicht, wie.
    Nachdem alle Geschenke aufgemacht waren, kehrten wir auf unsere Zimmer in der Econolodge zurück, die mein Vater gebucht hatte. Wir sahen aus dem Fenster, über die Autobahn und weiter in die Ferne, wo wir

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