Nackt
inzwischen aber immerhin noch einen prima Blick auf die neue Pizza Hut bot. In all den Jahren hatte unsere Mutter wiederholt den Wunsch geäußert, verbrannt zu werden. Man fuhr an einem kleinen Waldbrand vorbei, oder man betrachtete die Rauchsäulen, die aus dem Kamin des Nachbarn aufstiegen, und sie drückte ihre Zigarette aus und sagte dabei: «Genau das möchte ich auch. Macht mit den Überresten, was ihr wollt; streut sie in einem schicken Hotel in die Aschenbecher, schenkt sie klugscheißenden Kindern zu Weihnachten, überreicht sie am Aschermittwoch Katholiken, damit sie sie sich auf die Stirn reiben …; Hauptsache, ich werde verbrannt.»
«Och, Sharon», stöhnte mein Vater. «Du weißt doch gar nicht, was du wirklich willst.» Er sagte das, als wäre er bereits mehrmals verbrannt worden, aber inzwischen zur Vernunft gekommen und habe die normale Beerdigung als die einzig vernünftige Option akzeptieren gelernt.
Wir legten unsere Econolodge-Tagesdecken über das betaute Gras des Friedhofs, rauchten Joints und versuchten uns ein Leben ohne unsere Mutter vorzustellen. Wenn es einen Himmel gab, brauchten wir sie dort wahrscheinlich gar nicht erst zu suchen. Ebensowenig verdiente sie die brennenden Teergruben der Hölle, in denen sie die ganze Ewigkeit lang von denselben Arschgesichtern umgeben sein würde, denen wir Drive-in-Märkte und Themenrestaurants verdanken. Es musste irgendeine mittlere Ebene existieren, einen Ort, an dem man zwar jeden Tag gefoltert wurde, wo einem aber trotzdem ein paar Momente der Freude gegönnt waren, die man genießen konnte, wo immer man sie fand. Dieser Ort schien Raleigh, North Carolina, zu sein, wozu also die ganze Aufregung? Warum konnte sie nicht einfach bleiben, wo sie war, und keinen Krebs haben? Das war immer unsere Lösung, eine Zeitreise zurück. Wir sprachen darüber wie andere über Knochenmarktransplantation und Bestrahlung. Wir sprachen darüber, als wäre es eine reale Möglichkeit. Eine Zeitmaschine, das würde alle Probleme lösen. Fast sah ich die Schalttafel mit den blinkenden Lämpchen vor mir, das Armaturenbrett mit einer Skala, auf der ganz links eine Radierung klobige Saurier zeigte, und ganz rechts war Lisas Hochzeit. Wir konnten zurückschalten, bis wir unsere Mutter als junges Mädchen sahen, und uns ihrer annehmen, bevor sie durch den Suff ihres Vaters wachsam und misstrauisch geworden war. Konnten sie in der Glückwunschkartenabteilung vom Drugstore sehen und sie warnen, sie soll nur ja die Schule zu Ende machen. Ihre mangelnde Bildung machte sie verletzlich, weshalb sie viel zu oft «Was weiß ich denn schon» und «Ich bin zwar nur blöd, aber …» sagte. Wir konnten etwas weniger weit zurückschalten und uns als Babys sehen, konnten sehen, wie unsere Mutter ohne Führerschein auf dem Lande festsaß und nicht wusste, wen sie anrufen sollte, wenn wieder jemand einen Vierteldollar oder eine Sicherheitsnadel verschluckte. Wir hatten es in der Hand, und sie war uns ausgeliefert, grad wie sie’s immer gewesen war, nur diesmal würden wir auf sie aufpassen, und niemand durfte ihr ein Härchen krümmen. Seit unserer Ankunft in dieser Raststätte waren wir hin und zurück von einem Zimmer ins andere gegangen, hatten Geheimkonferenzen abgehalten und Privatinformationen ausgetauscht. Wir hofften, wenn wir uns auf das Schlimmste vorbereiteten, das Unvermeidliche mit einem gewissen Maß an Mut oder Anmut durchstehen zu können.
Alles, was wir vorhergesehen hatten, war mickrig, verglichen mit der Zukunft, die uns erwartete. Man kann sich nicht gegen eine Hungersnot wappnen, wenn man höchstens Appetit kennt; selbst der Versuch ist idiotisch. Man kann nur essen, solang man noch kann, sich vollstopfen, es sich mit beiden Händen rein schaufeln, die Teller sauberlecken und sich jedes Ganges in der Speisenfolge mit lebhafter Detailfreude entsinnen. Unsere Mutter war wieder auf ihrem Zimmer, sie lebte noch sehr und sah sich wahrscheinlich im Fernsehen einen Krimi an. Vielleicht war das ihr erleuchtetes Zimmer, ihre Gestalt, die auf den Balkon trat, um sich eine Zigarette anzuzünden. Wir sagten uns, sie wolle wahrscheinlich allein sein; so bekifft waren wir. Später dachten wir daran, jeder auf seine eigene, separate Weise. Ich persönlich erinnere mich an die Blödheit, dass man auf einem Friedhof auf und ab schreitet, während sie verängstigt und allein herumsaß, die Glut ihrer Zigarette anstarrte und sich selbst, inzwischen ganz klar, als Asche
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