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Nackt

Nackt

Titel: Nackt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Sedaris
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Schachtel Zigaretten aus der Tasche, nahm eine Zigarette und klopfte sie sachte gegen das Wagendach, bevor er sie anzündete. Dann ließ er das Buch in seine Gesäßtasche gleiten, stieg ein und fuhr davon.

Zyklop
    A ls junger Mensch hat mein Vater seinem besten Freund mit einem Luftgewehr ein Auge ausgeschossen. Das hat er uns erzählt. «Ein einziger unbedachter Moment, und, Jesus, wenn ich ihn ungeschehen machen könnte –, ich würde es tun.» Er zuckte zusammen und schüttelte die Faust, als hielte er eine Rassel. «Es frisst mich bei lebendigem Leibe auf», sagte er. «Damit will ich sagen, dass es mich schier zerreißt.»
    Als wir einmal im Sommer seine Vaterstadt besuchten, nahm mein Vater uns zu diesem Typ mit, einem Schuhverkäufer, dessen milchige Pupille den Winkel ihrer übel zugerichteten Augenhöhle umarmte. Ich beobachtete, wie die beiden Männer sich die Hand gaben, und wandte mich ab, von dem, was mein Vater getan hatte, angewidert und beschämt.
    Der Nachbarsjunge bekam zum zwölften Geburtstag ein Luftgewehr und nahm dies als persönliche Herausforderung, jedes lebende Geschöpf zu belauern und zu verstümmeln: sonnenbadende Katzen, Nacktschnecken und Eichhörnchen …; wenn es sich bewegte, schoss er. Ich fand das eine prima Idee, aber sobald ich das Gewehr an meine Schulter hob, sah ich den Freund meines Vaters, wie er halbblind mit einem Stapel Capezio- Kartons vor sich hin stolperte. Wie wäre es, mit einer solchen Schuld zu leben? Wie konnte mein Vater in den Spiegel sehen, ohne sich übergeben zu müssen?
    Eines Nachmittags stach mir meine Schwester Tiffany mit einem frisch gespitzten Bleistift ins Auge. Ich vergoss Ströme von Blut, und auf dem Weg ins Krankenhaus wusste ich, dass meine Schwester, falls ich erblindete, bis an ihr Lebensende meine Sklavin sein würde. Keine Sekunde lang würde ich sie vergessen lassen, was sie mir angetan hatte. In ihrer Zukunft würde es keine frivolen Cocktailpartys geben, keine Grillfeste am Schwimmbeckenrand oder ein kurzes Aufflackern sorglosen Gelächters, keinen einzigen Augenblick der Freude –, dafür würde ich zu sorgen wissen. Ich hatte meine Rache so sorgfältig geplant, dass ich fast enttäuscht war, als der Arzt bekanntgab, es sei nichts als eine leichte Einstichwunde, nicht im, sondern unterm Auge.
    «Sieh dir das Gesicht deines Bruders an», sagte mein Vater und deutete auf mein Hansaplast. «Er hätte lebenslang erblinden können! Dein eigener Bruder ein Zyklop –, ist es das, was du willst?» Tiffanys Leiden linderte eine bis zwei Stunden lang meine Schmerzen, aber dann begann sie mir leid zu tun. «Jedes Mal, wenn du nach einem Bleistift greifst, möchte ich, dass du daran denkst, was du deinem Bruder angetan hast», sagte mein Vater. «Ich möchte, dass du ihn auf Knien um Verzeihung bittest.»
    Man kann sich nur eine begrenzte Anzahl von Malen entschuldigen, bevor es lästig wird. Ich verlor das Interesse, bevor das Pflaster entfernt wurde, aber nicht so mein Vater. Als er damit durch war, konnte Tiffany keinen stumpfen Buntstift mehr anfassen, ohne in Tränen auszubrechen. Ihr hübsches, sonnengebräuntes Gesicht nahm die Eigenschaften einer runzligen, fettfleckigen alten Handtasche an. Mit sechs Jahren war das Mädchen am Ende.
    Überall lauerte die Gefahr, und die Lebensaufgabe meines Vaters bestand darin, uns vor ihr zu warnen. Während der Feiern zum 4. Juli im Country Club berichtete er uns, wie einer seiner Marinekumpels bis an sein Lebensende von einem Knallfrosch entstellt wurde, der ihm auf dem Schoß explodiert war. «Hat seine Eier von der Landkarte getilgt», sagte er. «Nimm dir die Sekunde Zeit und stell dir vor, wie sich das angefühlt haben muss!» Ich raste ans ganz andere Ende des Golfplatzes und sah mir den Rest vom Feuerwerk von dort an, die Hände im Schritt verschränkt.
    Feuerwerk war riskant, aber Gewitter war noch schlimmer. «Ich hatte einen Freund. War ein sehr intelligenter, gutaussehender Typ. Alles lief ganz prächtig, bis zu dem Tag, an dem er vom Blitz getroffen wurde. Er hat ihn genau zwischen den Augen erwischt, beim Forellenangeln, und ihm das Hirn verschmurgelt, dass es aussah wie ein Brathuhn. Jetzt hat er eine Metallplatte in der Stirn und kann nicht mal sein eigenes Essen kauen; alles muss in einen Mixer, und dann saugt er es sich durch einen Strohhalm rein.»
    Wenn der Blitz je in mich einschlagen wollte, musste er Mauern und Wände durchdringen. Beim ersten Anzeichen eines Gewitters rannte

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