Nackt
ist für dich und mich ein bisschen gepflegte Trauerarbeit angesagt, und ich hab genau das Richtige, um den Geist zu lösen.»
Seine Therapie erforderte zwei Portiönchen LSD, einen Beutel mit Eiswürfeln und eine Nadel. Wir benutzten ein gemeinsames Paar echt goldener Ohrpflöcke und saßen halluzinierend in der Küche des Wohnheims, während ein angehender Anwalt in Strafsachen uns Ohrlöcher stach.
Am nächsten Tag flog ich heim nach Raleigh, wo mein Vater sagte: «Mit einem Ohrring kommst du mir nicht ins Haus. Du. Mir. Nicht.»
Ich verbrachte die nächsten Stunden in der Einfahrt, drohte, ich würde im Kombi schlafen, weigerte mich, wegen seinesgleichen meinen guten Ruf aufs Spiel zu setzen. «Arschloch!», gellte ich. «Nazi!»
«Hör zu», sagte meine Mutter und kam mit einem Tablett voller murmelgroßer Fleischklöße vor die Tür. «Du nimmst den Ohrring ab, wir gehen auf die Beerdigung, du steckst ihn wieder rein, bevor dein Flieger geht. So schnell schließt sich das Loch nicht wieder; das versprech ich dir. Ich möchte, dass du das für deinen Vater tust, alles klar?» Sie stellte das Tablett auf die Kühlerhaube, nahm sich einen Fleischkloß und studierte ihn kurz. «Außerdem sieht ein Ohrring echt blöd aus, wenn er mit einer Brille kombiniert wird. Er sendet dann eine gemischte Botschaft, und der Effekt ist, naja, zwiespältig. Gib mir den Ohrring, ich heb ihn solang für dich auf. Dann möchte ich, dass du reinkommst und mir beim Hausputz hilfst. Morgen Nachmittag kommen die Griechen und da müssen wir den Schnaps verstecken.»
Ich entfernte den Ohrring und trug ihn nie wieder. Rückblickend schäme ich mich, weil ich ausgerechnet diesen Zeitpunkt wählte, um mich aufzulehnen. Mein Vater hatte gerade seine einzige Mutter eingebüßt, und ich nahm an, er empfinde, genau wie wir alle, nichts als Erleichterung. Jetzt war er von seinem griechischen Anker gekappt und konnte frei durch unsere kräftigenden amerikanischen Fluten kreuzen. Die Ya Ya hatte weder Geld noch Grundbesitz hinterlassen, keine Rezepte von unschätzbarem Wert oder kostspielige Andenken, nichts als ein Gefühl der Erlösung; und was ist das für ein Erbe? Ich kann mir nicht helfen, aber ich stelle mir vor, sie ist mit höher fliegenden Zielen aufgebrochen. Als junges Mädchen in Griechenland muss sie doch auch über Witze gelacht haben, die nur sie und sonst noch wer verstanden hat, und für den einen oder anderen jungen Steinmetz namens Xerxes oder Prometheus geschwärmt. Als man ihr sagte, sie würde in eine neue Welt geschickt, hat sie sich hoffentlich ein paar Stunden freigenommen, um sich ein Leben voller Kuchen und Dienstboten auszumalen, ein Leben, in welchem ihr jemand die Schuhe putzt und das Geld bügelt. Das Leben hatte sie dazu verurteilt, von Fremden umgeben zu sterben. Auf die Weide geschickt, zog sie es vor, ihre letzten Jahre zu vergrübeln und im engen Geviert ihrer von Wohlgerüchen durchzogenen Box vom einen Fuß auf den andern zu treten.
«Wenn ich so werde, möchte ich, dass ihr mich erschießt. Ohne Fragen zu stellen», flüsterte meine Mutter. «Reißt die Versorgungsschläuche raus und stellt die Monitore ab, aber unter gar keinen Umständen möchte ich, dass ihr mich in den Keller verlegt.»
Wir nickten dem Sarg zu – mein Bruder, meine Schwestern und ich – und wussten, dass es mit ihr nie so weit kommen würde. Unser Vater dagegen, der Mann, der in der ersten Reihe weinte, der würde mehr Arbeit machen.
Familienbande
I ch fand das Buch in den Wäldern, versteckt unter einer Sperrholzplatte, der Einband abgerissen und die Seiten feucht und angeschimmelt.
Brock und Bonnie Rivers standen in ihrer Einfahrt und winkten Pfarrer Hassleback zum Abschied ein Lebewohl hinterher.
«Lebewohl», sagten sie und winkten.
«Lebewohl», erwiderte der Pfarrer. «Sagt euren beiden halbwüchsigen Kindern, Josh und Sandi, dass sie erstklassige Novizen sind. Sie sind brave Kinder», fügte er mit einem Augenzwinkern hinzu. «Fast so gut und geil wie ihre Eltern!»
Die Rivers lächelten beifällig und hoben abermals die Hände zu einem Winken. Als das Auto des Pfarrers schließlich die Einfahrt verließ, blieben sie noch einen Augenblick lang im hellen Sonnenschein stehen, bevor sie in den Keller stiegen, um die Kinder loszubinden.
Das Thema des Buches war, dass die Menschen nicht immer das sind, was sie zu sein scheinen. In ihrer gehobenen Mittelstandsgemeinde hochgeachtet, praktizierte die Familie Rivers eine
Weitere Kostenlose Bücher