Nackt
einer Wandtafel zu stehen und ihre Lehrer nachzuahmen. «Tut mir sehr leid, Candice, aber ich werde dich durchfallen lassen müssen», sagte sie, indem sie sich an einen der leeren Klappstühle wandte, die vor ihr standen. «Das Problem ist ja nicht, dass du dich nicht anstrengst. Das Problem ist, dass du dumm bist. Sehr, sehr dumm. Na, Kinder, ist Candice etwa nicht dumm? Hässlich ist sie auch, stimmt’s? Gut, Candice, du kannst dich jetzt wieder hinsetzen und, um Himmels willen, aufhören zu flennen. Und nun, liebe Kinder, werde ich euch aus dem Buch vorlesen, welches wir diese Woche durchnehmen. Es ist eine Geschichte über eine Familie in Kalifornien und es heißt Familienbande. »
Wenn Amy das Buch gelesen hatte, dann hatte es bestimmt auch die acht Jahre alte Tiffany gesehen, die im selben Zimmer schlief, und unser Bruder Paul wahrscheinlich auch, der mit seinen zwei Jahren am Einband gelutscht haben mag, was noch gefährlicher war als die Lektüre. Dies musste eindeutig aufhören, bevor es außer Kontrolle geriet. Der Ausdruck «in Vorfreude bebendes Urschloch » wurde von Tag zu Tag beliebter und sogar unsere altgriechische Großmutter erschien mit verdächtigen Rändern unter den Augen am Frühstückstisch.
Gretchen nahm das Buch und versteckte es unter dem Teppich ihres Schlafzimmers, wo es von Lena, unserer Haushälterin, entdeckt wurde, welche es irgendwann unserer Mutter aushändigte.
«Ich werde dafür sorgen, dass es ein für allemal beseitigt wird», sagte sie und eilte über den Korridor, ihrem Zimmer entgegen.
« Bims mich», lachte sie, eine wahllos aufgeschlagene Seite vorlesend. «Klingt schon mal nicht schlecht.»
Wochen später fanden Gretchen und ich das Buch zwischen Matratze und Federung des Ehebetts, die Seiten mit Kaffeeringen und Zigarettenasche befleckt. Die Entdeckung schien Gretchens Verdächte sämtlich zu bestätigen. «Jetzt werden sie von einem Tag auf den andern über uns herfallen», warnte sie. «Sei auf der Hut, mein Freund, denn diesmal meinen sie’s ernst.» Sie hob zweifellos auf die Episode in Kapitel 8 ab, wo Mr. und Mrs. Rivers ihre Kinder einer Bande übelgelaunter Goldgräber mit üblem Atem und rauen, schwieligen Händen anbieten. Den Rivers-Kindern schien es Spaß zu machen, aber sie kannten es, wenn man es recht bedenkt, nicht anders.
Wir warteten. Ich hatte immer darauf Wert gelegt, meiner Mutter einen Gutenachtkuss zu geben, aber damit war es vorbei. Ihre Hand auf meiner Schulter verursachte bei mir Gänsehaut. Eines Nachmittags säumte sie mir eine Hose, als ich, vor ihr auf einem Küchenstuhl stehend, spürte, wie ihre Hand meinen Hintern streifte.
«Lass uns einfach gute Freunde sein», stammelte ich. «Nicht mehr, aber auch nicht weniger.»
Sie nahm die Stecknadel aus dem Mund und betrachtete mich eingehend, bevor sie seufzte: «Da hast du mich also all die Jahre hinters Licht geführt.»
Ich las das Buch ein weiteres Mal und versuchte mein früheres Vergnügen wieder wachwerden zu lassen, aber nun war es zu spät. Ich konnte die Formulierung «Er knuff seiner Tochter in die steinharten Brastwurzen» nicht mehr lesen, ohne daran zu denken, wie Gretchen sich in ihrem Zimmer verbarrikadierte.
Ich dachte, vielleicht werfe ich das Buch weg oder verbrenne es sogar; wie einen noch total guten Pullover, aus dem man herausgewachsen ist, schien es eine Schande, wenn man es zerstörte, wo die Welt doch voller Menschen war, die noch Nutzen daraus ziehen konnten. Dies eingedenk, trug ich das Buch zum Parkplatz vor dem Lebensmittelladen und warf es auf die Ladefläche eines blitzblanken neuen Kleinlasters. Besorgt und erleichtert zugleich, pfiff ich, als ich hinter dem Verkaufsautomaten des Lebensmittelladens Posten bezog und auf den Eigentümer des Kleinlasters wartete, bis dieser, einen Einkaufswagen voller Ware vor sich her schiebend, zurückkehrte. Er war ein drahtiger Mann mit modischen Koteletten und einem Arm halb in Gips. Als er seine Tüten auf der Ladefläche verstaute, verengten sich seine Augen beim Anblick des Buchs. Ich beobachtete ihn, wie er es an sich nahm und die ersten Seiten durchblätterte, bevor er den Kopf hob, um den Parkplatz abzusuchen. Er kämmte das Gebiet mit den Augen durch, als rechne er damit, eine Überwachungskamera oder, vorzugsweise, einen Kleinbus voll nackter Frauenzimmer zu entdecken, die ihre baren Brüste gegen die Fenster pressen und ihn – er solle doch kein Frosch sein – zum Mitmachen auffordern. Er zog eine
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