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Nackt

Nackt

Titel: Nackt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Sedaris
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Vater, als ich meine vorläufige Fahrerlaubnis bekam. «Du wirst in die Welt hinausfahren und jemanden umbringen und die Schuld wird dir das Herz aus dem Leibe reißen.»
    Die Angst vor Selbstmord hatte mich auf fünf Meilen pro Stunde verlangsamt. Die Angst davor, jemand anderen zu ermorden, brachte mich vollends zum Stillstand.
    Meine Mutter hatte mich in einer Regennacht von der Probe zu einer Schüleraufführung abgeholt, und als das Auto bergauf fuhr, fuhr es über etwas, über das es nicht hätte fahren sollen. Es war dies kein Wackerstein oder ein Stiefel am falschen Ort, sondern irgendein Lebewesen, welches erbärmlich schrie, als es vom Reifen überrollt wurde. «Scheiße», flüsterte meine Mutter und schlug die Stirn gegen das Lenkrad. «Scheiße, Scheiße, Scheiße.» Wir bedeckten uns gegen den Regen und suchten die dunkle Straße ab, bis wir eine orangefarbene Katze fanden, die Blut in den Rinnstein hustete.
    «Du hast mich umgebracht», sagte die Katze und zeigte mit ihrer plattgefahrenen Pfote auf meine Mutter. «Da hatte ich nun so viel, wofür zu leben lohnte, doch nun ist es vorbei, mein ganzes Leben – zack! – ausgelöscht.» Die Katze keuchte rhythmisch, bevor sie die Augen schloss und starb. «Scheiße», wiederholte meine Mutter. Wir gingen von Haus zu Haus, bis wir die Katzenhalterin fanden, eine freundliche und verständnisvolle Frau, deren Tochter keine dieser Tugenden geerbt hatte. «Du hast meine Katze umgebracht», kreischte sie und schluchzte ihrer Mutter in den Rock. «Du bist gemein und du bist hässlich und du hast meine Katze umgebracht.»
    «Ein schwieriges Alter», sagte die Frau und streichelte dem Kind übers Haar.
    Meine Mutter fühlte sich auch ohne die Strafpredigt, die sie zu Hause erwartete, mies genug. «Das hätte ein Kind sein können!», rief mein Vater. «Denk darüber nach, wenn du nächstes Mal auf der Suche nach Nervenkitzel die Straße entlangfegst.» Bei ihm klang es, als überführe meine Mutter Katzen aus Quatsch. «Das findest du wohl komisch», sagte er, «aber wir werden sehen, wer zuletzt lacht, wenn du hinter Gittern sitzt und deinem Verfahren wegen Totschlags entgegensiehst.» Ich bekam eine Variation derselben Rede zu hören, als ich einen Briefkasten gestreift hatte. Trotz der Ermutigung meiner Mutter gab ich meinen Führerschein zurück und fuhr nie wieder. Ich hielt es nervlich einfach nicht aus. Es schien mir sicherer, per Anhalter zu fahren.
    Mein Vater war dagegen, als ich nach Chicago zog, und er führte eine regelrechte Kampagne des Grauens, als ich meine Umzugspläne nach New York bekanntgab. «New York! Bist du geistesgestört? Nimm doch gleich ein Rasiermesser und schneid dir die Kehle durch, denn, eins will ich dir sagen, diese New Yorker werden dich bei lebendigem Leibe fressen.» Er erwähnte Freunde, die von umherschweifenden Rüpelrudeln ausgeraubt und verstümmelt worden waren, und schickte mir Zeitungsausschnitte, in denen ausführlich von Morden an Joggern und Pauschaltouristen die Rede war. «Das könntest du sein!», schrieb er an den Rand.
    Ich hatte mehrere Jahre lang in New York gelebt, als ich, auf dem Weg zu einer Hochzeitsfeier tief im Staate New York, im Geburtsort meines Vaters haltmachte. Wir waren, seitdem meine Großmutter bei uns eingezogen war, nicht mehr dort gewesen, und ich orientierte mich mit einer geradezu gruseligen Ortskenntnis. Ich fand die alte Wohnung meines Vaters, aber das Schuhgeschäft seines Freundes war jetzt eine Billardhalle. Als ich ihn anrief, um ihm das zu berichten, sagte mein Vater: «Was für ein Schuhgeschäft? Wovon sprichst du überhaupt?»
    «Wo dein Freund gearbeitet hat», sagte ich. «Du weißt doch, der Typ, dem du das Auge ausgeschossen hast.»
    «Frank?», sagte er. «Ich habe dem nie ein Auge ausgeschossen. Der Mann war seit seiner Geburt so.»
    Inzwischen besucht mein Vater mich in New York. Wir spazieren über den Washington Square, wo er «Kuck mal, was der für eine hässliche Fresse hat!», schreit und auf den dreihundert Pfund schweren Angehörigen einer Motorrad-Bande zeigt, dessen Hals von tätowierten grinsenden Totenschädeln geschmückt wird wie von einem Kropfband. Im Central Park fotografiert ein junger Mann seine Freundin, und mein Vater stürmt los, um sich ins Bild zu werfen. «Alles klar, Süße», sagt er und legt den Arm um das verschreckte Opfer, «jetzt machen wir’s uns ein bisschen nett.» Ich ducke mich, wenn er in Feinkostläden marschiert und den

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