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Nackt

Nackt

Titel: Nackt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Sedaris
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wörtliche Interpretation des Satzes «Liebe Deinen Nächsten». Gelenkig wie die Bodenturner, waren diese Leute ebenso schamlos wie unersättlich. Da trieb es Vater mit Tochter, Bruder mit Schwester, Mutter mit Sohn: Nachdem jede mögliche Kombination erschöpft war, erweiterten sie den Kreis um geile Kapitäne zur See und vagierende Scherenschleifer. Sie trieben es in Höhlen mit ihrem Dobermann und auf dem Dachfirst mit dem Bautrupp, der die Schindeln erneuern sollte. Die ersten beide Male, die ich das Buch las, war die Lektüre so schön, dass es weh tat. Ja, diese Leute waren schlimm, aber mit dreizehn Jahren konnte ich ihre ansteckende Energie und beherzte Lebenslust nur bewundern. Beim dritten Mal war ich schockiert, nicht vom Benehmen der Romanfiguren, sondern von den unzähligen Satzfehlern. Hatte es denn niemand für nötig gehalten, dieses Buch mal Korrektur zu lesen, bevor es in Druck ging? Im Eingangskapitel dieses Buches erleben wir die Tochter mit dem Pummel ihres Bruders in der Mischi, wobei sie « Bims mich, so dull du kannst» ruft. Als der Sohn auf Seite dreiunddreißig Sex mit seiner Mutter hat, hinterlässt er bei der Frau « Totten, die von Sparma glänzten».
    Ich zeigte das Buch meiner Schwester Lisa, die es mir mit den Worten «Lass mich das erst mal behalten» aus den Händen riss. Wir tauschten oft Jobs als Babysitter und betrachteten uns im Bereich der literarischen Pornographie als recht belesen.
    «Sieh im Elternschlafzimmer unter den Pullovern in der zweiten Schublade in der weißen Kommode nach», sagte sie. Wir hatten beide Die Geschichte der O und die gesammelten Schriften des Marquis de Sade mit einem Auge auf der Haustür gelesen, immer in der Furcht, die Hausherren könnten reinkommen und uns mit gestachelten Peitschen und heißen Ölen foltern. «Ich kenne euch», sagte unser Blick, wenn die Eltern ihre schlafenden Kinder überprüften. «Ich weiß alles über euch.»
    Das Buch ging von Lisa an unsere elfjährige Schwester Gretchen, die es als aufrüttelndes Enthüllungs-Sachbuch über die amerikanische Mittelschicht interpretierte. «Ich bin ziemlich sicher, dass genau dies genau hier in North Hills an der Tagesordnung ist», flüsterte sie und steckte das Buch unter das Kunstgras ihres Osterkörbchens. «Seht euch zum Beispiel die Familie Sherman an. Erst letzte Woche habe ich gesehen, wie Heidi Steve junior in die Hose gelangt hat.»
    «Der Typ hat sich beide Arme gebrochen», sagte ich. «Sie hat ihm wahrscheinlich nur das Hemd in die Hose gestopft.»
    «Würdest du dir von einer von uns das Hemd in die Hose stopfen lassen?», fragte sie.
    Wo sie recht hatte, hatte sie recht. Eine sorgfältige Studie legte den Verdacht nahe, dass die Shermans nicht das waren, was sie zu sein vorgaben. Der Vater wurde oft dabei beobachtet, wie er sich am Sack kratzte, und seine Frau hatte die störende Angewohnheit, einem direkt in die Augen zu sehen und dabei an ihren Fingern zu schnüffeln. Ein Schleier war gelüftet worden, besonders für Gretchen, die jetzt die Welt als Grube sah, aus der die ungezügelte Sexualität dampfte. Sie saß auf einem Klubsessel im Country Club, verengte die Augen zu Schlitzen und stellte Mutmaßungen über die Kinder an, die das seichte Ende des Pools bevölkerten. «Mich beschleicht der Verdacht, Christina Youngblood könnte unsere Halbschwester sein. Das Kinn hat sie von ihrem Vater, aber Augen und Mund sind reinste Mom.»
    Ich mochte unsere Eltern nicht in so was verwickeln, aber Gretchen bot eine beängstigende Fülle an Beweisen auf. Sie vermerkte, wie unsere Mutter Lippenstift auftrug, wenn sich der Kartoffelchipslieferant näherte, den sie mit Vornamen anredete und oft zur Benutzung unserer Toilette einlud. Unser Vater nannte die Damen in der Bankfiliale «Puppe» oder «Schätzchen», und ihre Reaktionen ließen ahnen, dass er sich einmal zu oft an ihnen schadlos gehalten hatte. Die Griechisch-Orthodoxe Kirche, die farbenfroh gekleideten Paare im Country Club, sogar unsere ältliche Collie-Hündin Duchess: Sie gehörten laut Gretchen alle dazu, und sie gewöhnte sich an, jeden Abend vor dem Schlafengehen ihre Schlafzimmertür mit aufgetürmten Möbeln zu verbarrikadieren.
    Schließlich gelangte das Buch in die Hände unserer zehnjährigen Schwester Amy, die es als Schulbuch in ihrem imaginären Unterricht verwendete, den sie jeden Tag nach der Schule gab. Mit Perücke und hochhackigen Schuhen angetan, verbrachte sie ihre späten Nachmittage damit, vor

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