Nackt
lassen!»
Clarence sagte nur: «Später, Baby», und er sprach, als wären dies junge Mädchen, die vor dem Bühneneingang auf sein Autogramm warteten. Er las die Nummern an den Feldbetten und blieb vor einer älteren Frau stehen, die heftig zuckte. Ihr schulterlanges Haar war vom gleichen stumpfen Gelb wie ihr eingesauter Kopfkissenbezug. Er klappte eine Rollpritsche auseinander und schirrte sie von ihrem Bett ab. «Ich nehm das obere Ende und du kriegst die Füße», sagte er. «Los, Oma, eine kleine Ausfahrt.» Als das Laken angehoben wurde, war ich schockiert, als ich entdeckte, dass diese Frau nackt war. Ich hatte noch nie eine nackte Frau gesehen und war gerade lange genug verdutzt, dass sie nach vorn taumeln und ihre letzten drei Zähne in meinen Unterarm senken konnte. Dann verdrehte die Frau ihren Kopf, knurrte und zerrte an meinem Fleisch, als wäre sie ein Luchs oder Vielfraß, irgendein wildes Geschöpf, gewohnt, sich seine Mahlzeiten zu jagen. Clarence hob sein Radio, dachte dann an den möglichen Schaden, den es nehmen könnte, zog einen Schuh aus und knallte ihn der Frau über den Kopf, bis sie losließ und auf ihr Kissen zurücksank. Ihre Zähne waren durch die Haut gedrungen, aber Clarence beruhigte mich, er habe schon viel Schlimmeres gesehen. Eine Tetanusspritze, ein bisschen Jod, alles halb so wild.
Unser Tag nahm seinen Fortgang, und es gab alles, von einem mongoloiden Backfisch mit eingewachsenem Zehennagel bis zum selbsternannten Swami, der sich einen Turban aus uringetränkten Handtüchern gebastelt hatte. Clarence und ich karrten sie auf die Pflegestation und später wieder zurück ins Krankenzimmer. «Alles nur eine Frage von Transport und Lieferung», sagte er. «Außer wenn sie Scheiße an den Händen haben und die Bahre vollschweinen.» Die Patienten stöhnten, winselten und kreischten. Sie gackerten und johlten und sabberten, von Drogen benommen. An Clarence perlte das alles ab, aber ich hatte mir so eine Welt nie vorgestellt. Wenn man sich wundgelegen hatte, so konnte das irgendwann heilen, aber was war mit den wesentlicheren Problemen des Patienten? Ein normales Krankenhaus, mit seinem freundlichen Wartezimmer und Blumenkörben, bot einen gewissen Grad an Hoffnung. Hier gab es keine Postkarten und Schmuckblatt-Telegramme, auf denen «Gute Besserung!» stand, auch keine heliumgefüllten Luftballons, nur ein alles durchdringendes Gefühl von Verhängnis. Geschick oder Zufall hatten diese Menschen zu Fall gebracht und auseinandergebrochen. Mir schien es, als könne so etwas jedem passieren, egal, wie schön man wohnt oder wie anständig man ausgebildet ist. Einmal zu oft wütend werden oder sich zu lang die Haare kämmen und schon könnte dies das erste Anzeichen sein. In jedem unserer Hirne könnte etwas versteckt sein, was dort still lauert. Und wartet.
«Ersparen Sie mir die Einzelheiten, Herr Dr. Freud», sagte Lisa auf dem Beifahrersitz, als unsere Mutter uns an jenem Nachmittag nach Hause fuhr. Lisa hatte den Tag auf der Entbindungsstation verbracht, wo sie den Patientinnen eine Auswahl an Frauenzeitschriften und Taschenbuchromanen angeboten hatte. «Mein Gott, ich hoffe, ich werde nie so fett. Manche haben ausgesehen, als hätten sie einen tragbaren Fernseher verschluckt.» Sie trug eine adrette rotweißgestreifte Uniform, studierte ihr Abbild im Rückspiegel und übte in der Hoffnung auf einen knackigen Praktikanten ihr Lächeln. Sie verstand nicht, wovon ich redete, meine Mutter schon. Jeden Abend, wenn sie die Eiswürfel auf dem Grunde ihres Highball-Glases klirren ließ, wusste meine Mutter haargenau, wovon ich sprach. Gesundheit, sei sie nun geistig oder körperlich, war nie die starke Seite ihrer Familie gewesen. Das Familienwappen der Leonards bestand aus Scotchflasche und Tumor.
Nach seiner Schocktherapie wurde mein Großvater nach Hause entlassen, wo er seinen Lebensabend damit verbrachte, das Kernhaus von Äpfeln zu entfernen und Kuchen zu backen. Die Kinder waren aus dem Haus, seine Frau hatte Hypoglykämie, niemand war da, der Apfelkuchen wollte, aber das schreckte ihn nicht ab. Er buk, als wäre das gesamte U. S. Marine Corps vor der Haustür stationiert, trommelte mit Gabeln gegen Blechteller und brüllte im Chor: «Nachtisch! Nachtisch!» Vier Kuchen waren im Ofen und er rollte flaggengroße Teigstücke für die nächsten Krusten aus. Zweimal im Jahr besuchten wir meine Großeltern, und ich erinnere mich, dass dort auf jeder verfügbaren Fläche Apfelkuchen zum
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