Nackt
glänzendem Nagellack von der Kommode zu holen. Es war ein ganz neuer Farbton, Kitt. Anstatt die Nägel zu betonen, bewirkte er, dass sie im sie umgebenden Fleisch verschwanden, wodurch ein Look entstand, der gleichzeitig ausgeflippt und populär war. Ich habe nie verstanden, warum Frauen sich die Zehennägel lackieren, schon gar nicht bei meiner Mutter, deren krustige, missgestaltete Krallgebilde den zersplitterten «Frito»-Kartoffelchips von der Größe eines Goldnuggets ähnelten, die man ganz unten in der Tüte aneinandergeschmiegt findet. Sie stand vor dem Spiegel, schüttelte die Flasche und betrachtete sorgenvoll ihr sprödes, angegrautes Haar, welches zu einer lustlosen Frisur arrangiert war, die sie «Vorsicht! Hier hat der Teufel hingetreten!», nannte. Dann beobachtete ich, wie sie in ihrem Kleiderschrank wühlte und mit einer großen Plastikkiste wieder zum Vorschein kam, die mit Schlössern gesichert war, wie man sie von Koffern kennt. Den Kleiderschrank meines Vaters hatte ich tausendmal untersucht, den meiner Mutter noch nie. «Wenn ich was Wertvolles hätte, würde ich es da zuallerletzt aufbewahren», sagte sie. «Nicht mal die gottverdammten Motten mögen meine Sachen.» Schrank und Kommodenschubladen meines Vaters boten Hinweise auf sein Innenleben. Es machte mir Spaß zu enthüllen, was ich für seine Geheimnisse hielt, fand es aber besser, die Privatsphäre meiner Mutter nicht zu verletzen, nicht so sehr aus Respekt wie aus Furcht. Ich wollte nicht, dass womöglich Handschellen oder lederne Scharfrichterkapuzen dem Konzept in die Quere kamen, dass diese Frau zunächst und vor allen Dingen meine Mutter war.
Sie stellte die Kiste auf die Kommode, öffnete die Schlösser und hob den Deckel, wodurch ein bleicher Kopf aus Styropor sichtbar wurde, der eine sandblonde Perücke trug, deren Haar zu einer Serie kühner Wogen modelliert war. Es war eine gewaltige Haarpracht, so vollkommen, als wäre sie, an einem jener freien Tage, wenn Er Sich eher kreativ als rachsüchtig fühlte, vielleicht von Gott Persönlich gestylt. Nachdem sie sorgfältig die Nadeln entfernt hatte, setzte meine Mutter sich die Perücke auf und studierte sich im Spiegel. Sie nickte hierher und dahin, aber die Locken spotteten allen physikalischen Gesetzen und blieben, wo sie waren. Dämpfe von der Schuhwichse machten mir übel, ich begann zu transpirieren, der tintige Schweiß rann mir die Stirn herab und befleckte mein Hemd.
«Was sagst du dazu, Frolleinchen?», fragte meine Mutter sich selbst. Sie brachte eine Schicht Lippenstift an und hielt das Gesicht nah an den Spiegel, legte den Kopf schief und hob die Augenbrauen in einer Serie von Gesichtsausdrücken, die alles von tief empfundener Besorgnis bis hin zu voll aufgedrehter Rage vermittelten. Dann trat sie vom Spiegel zurück und stellte sich sich vor, als wäre ihr Spiegelbild ein Gast, den sie gerade kennenlernt. Das tat ich auch oft in der Abgeschiedenheit des Badezimmers. «Wer ist der denn?», fragte ich dann und bewunderte mich mit einem neuen Hemd oder Haarschnitt. Meistens endeten diese privaten Sitzungen damit, dass Hose und Unterhose sich um die Fußknöchel gewickelt hatten. Knöpfte meine Mutter sich jetzt etwa die Bluse auf? Hob sie etwa den Rock und erregte sich selbst? An welchem Punkt wollte ich eingreifen und die Sache beenden? Wie konnte ich mit mir selbst weiterleben, wenn ich wusste, wie sie nackt aussah? Bitte, dachte ich, tu’s nicht. Sei nicht wie ich.
«Also los», sagte meine Mutter. «Wie war’s, malen wir mal diese Zehennägel an?» Sie schraubte das Fläschchen auf und setzte sich auf die Bettkante. Ich beobachtete, wie sie die Zehennägel spreizte und sich an die Arbeit machte und immer wieder innehielt, um sich im Spiegel zu betrachten. Sie beendete den rechten Fuß und hielt ihn zur Begutachtung hoch. «Ein bisschen auf den Nagel, ein bisschen auf den Zeh, ein paar Tropfen auf den Teppich, und alle sind zufrieden.»
Als der linke Fuß fertig war, knallte sie den Nagellack auf die Kommode und errichtete einen Hügel aus Kissen, etwas, was hoch genug war, dass sie sich auf den Rücken legen konnte, ohne ihre Perücke zu verkrumpeln. Es sah unbequem aus, aber sie schien es gewohnt zu sein. Das Zimmer, mit seinem ungemachten Bett und dem mit Zigarettenschachteln vollgemüllten Fußboden, sah aus wie die Stätte eines Verbrechens. Sie hätte eine Nachtklub-Hostess sein können, die erwürgt worden war, weil sie zu viel wusste, oder eine
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