Nackt
identifizieren gelernt hatte. Außer ein paar Neuen kannte ich die meisten von ihnen seit der dritten Klasse. Wir hatten Jahre miteinander in aus Schlacke gemauerten Büros verbracht, während ein Sprachtherapeut nach dem andern versuchte, uns von unserem Lispeln zu heilen. Hätte es einen Gehspezialisten gegeben, wären wir wahrscheinlich auch dort zusammengekommen. Das waren dieselben Knaben, die jammervoll gefälschte Entschuldigungsschreiben in den Turnunterricht mitbrachten und als erste die Hand hoben, wenn der Englischlehrer fragte, wer Lust hat, laut aus Frühling des Lebens oder Der Herr der Fliegen vorzulesen. Wir hatten einander schon vor langer Zeit identifiziert und hatten verstanden, dass wir wegen all dessen, was uns verband, nie Freunde sein konnten. Hätten wir gesellschaftlich miteinander verkehrt, hätten wir zu viel Aufmerksamkeit erregt. Wir waren Mitglieder eines Geheimbundes, der sich auf Selbsthass gründete. Wenn ein Lehrer oder Klassenkamerad einen Witz über einen realen Homosexuellen riss, war ich bemüht, mein Gelächter lauter zu gestalten als das der anderen. Wenn die Klamotten eines Klubmitglieds ins Klo der Umkleideräume geschmissen wurden, war ich der erste, der Beifall spendete. Wenn es meine Klamotten waren, beobachtete ich, wie die Gesichter meiner Genossen einen erkennbaren Ausdruck von Erleichterung annahmen. Tunten, dachte ich. Das hätte euch passieren sollen.
Mehrere meiner Lehrer kratzten sich, als die Rede auf die bevorstehende Rassenintegration an den Schulen kam, an den feuchten Flecken in ihren Achselhöhlen und zogen die Lippen auseinander, sodass alles, was sie an Zahn und Zahnfleisch hatten, zu sehen war. Sie machten Affengeräusche, eine manische Abfolge von Ooohs und Aaahs, die andeuten sollten, dass unsere Schule bald nicht mehr von einem Urwald zu unterscheiden sein würde. Hätte ein echter Menschenaffe in der Klasse gesessen, hätte er wahrscheinlich ihre Rufe als Panikschrei verstanden. Alles, worunter sie litten, erfüllte mich mit Freude, ich bezweifelte aber, dass sie im Herbst immer noch so reden würden. Aus allem, was ich im Fernsehen gesehen hatte, schloss ich, dass die Neger sich diese Albernheiten nicht würden bieten lassen. Als Volk schienen sie zusammenzuhalten. Sie wussten, wie man kämpft, und ich hoffte, dass, sobald sie kamen, die Schlacht von den Gladiatoren ausgefochten werden musste, so-dass man uns andere in Frieden ließ.
Am Ende dieses Schuljahres durften Lisa und ich unsere gemeinnützigen Arbeitsplätze verlassen und wurden nach Griechenland geschickt, wo wir einen Monat in einem Ferienlager verbringen sollten, welches als «das Kronjuwel des Ionischen Meeres» angepriesen wurde. Das Lager war ausschließlich für Gräko-Amerikaner und bot Unterweisung in Themen wie Gesang von Volksmusik und etwas, was «religiöses Gebet & Flagge» hieß. Ich verachtete das Konzept Ferienlager, sehnte mich aber danach, mit einem EuropaAufenthalt angeben zu können. «Es verändert den Menschen!», hatte unsere Nachbarin gesagt. Nach einem Besuch in Saint-Tropez hatte sie ihren Garten mit einer Garnitur papiertaschentuchgroßer internationaler Flaggen geschmückt. Einst eine besonnene und bescheidene Frau, parodierte sie jetzt, nur mit Holzschuhen und einem flammenmotivbestickten Bikini bekleidet, durch ihren Garten. «Europa ist das Beste, was einem Menschen passieren kann, besonders wenn man Wein mag!»
Ich sah Europa als Gelegenheit, mich selbst neu zu erfinden. Zwar mochte ich danach noch so aussehen und sprechen wie zuvor, nachdem ich aber über jene kopfsteingepfasterten Straßen geschritten war, würde man mich als kontinental zu würdigen wissen. «Er hat einen Pass», würden meine Klassenkameraden flüstern. «Schnell weg, bevor er uns beurteilt!»
Ich sagte mir, ich würde in Griechenland eine Freundin finden. Sie sollte eine französische Touristin sein, die am Strand entlangwanderte, ein Weißbrot unterm Arm. Lisette würde beweisen, dass ich nicht homosexuell war, sondern ein Mann von erlesenem Geschmack. Ich sah uns vor der Silhouette der Akropolis Händchen halten, wobei mich das Mädchen beschwor, ihr Akkordeon als Unterpfand unserer Liebe zu behalten. «Wie kann man nur so töricht sein», sagte ich und wischte ihr die Tränen aus den Augen, «gib mir nur die Baskenmütze. Die genügt vollauf, damit ich dich bis ans Ende der Zeiten im Herzen bewahre.»
Falls mir niemand glaubte, hatte ich meine Schwester als Zeugin. Lisa und ich
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