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Nackt

Nackt

Titel: Nackt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Sedaris
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Mahlzeit hinzusetzen –, das wurde zu einer Übung, als müsste man eine Muskete laden. Ich redete mir ein, ich könnte während eines Ausflugs verschwinden, aber die dortigen Toiletten waren nicht mehr als ein Loch im Fußboden, ein Loch, das ich ohne jedes Problem hätte füllen können. Ich zog das Ionische Meer in Erwägung, aber aus irgendwelchen Gründen war es uns nicht gestattet, in diesen Fluten zu schwimmen. Das Lager verfügte über ein Schwimmbecken im Olympiadeformat, welches mit Meerwasser gespeist wurde und sich bald trübte, weil die Pumpe die Ionischen Quallen pulverisiert hatte. Die feingehackten Nesselfäden bewirkten Schmisse auf Ferienkinderhaut, und kurz nach unserer Ankunft wurde angesagt, wir könnten sowohl das Schwimmbecken als auch den Ozean fotografieren, schwimmen allerdings in weder noch. Die Griechen hatten die Demokratie erfunden, die Akropolis erbaut und sich dann wieder hingelegt. Unsere Schwimmstunde wurde in «Stunde der Kontemplation» für die Mädchen und zusätzliches Fußballtraining für die Jungens umgewandelt.
    «Ich glaube wirklich, ich würde auf dem Gebiet der Kontemplation mehr leisten», sagte ich zum Trainer und massierte meinen angeschwollenen Bauch. «Ich habe ein persönliches Problem, welches mich irgendwie runterzieht.»
    Weil wir in erster Linie und vor allen Dingen Amerikaner waren, war das Lager eigentlich eine Außenstelle der Junior High School, nur dass hier jeder über Gebühr Leberflecke und durchgehende Augenbrauen aufwies. Die attraktiven sportbegeisterten Jungens waren die Hauptpersonen, schleimten sich bei den Betreuern an und ruinierten unseren wöchentlichen Freiluftfilm mit ihren faden Zwischenrufen. Manchmal brachten uns die Ausflugsbusse an eine der vielen Herrlichkeiten des Landes, wo wir über die Andenkenläden herfielen und alles klauten, was nicht ans Regal gekettet oder weggeschlossen und bewacht war. Das waren billige, beschichtete Freundschaftsringe und Vasen, die einen halben Liter fassen konnten, kleine Schuhe mit Pompons und Kaffeetassen mit der Aufschrift SPARTA IS FOR A LOVER. Meine Erfahrung als Ladendieb war alles, was ich den beliebten Jungens voraus hatte. «Du musst sie so nehmen», flüsterte ich. «Dann wirbelst du herum und lässt die kleine Diana-Statue hinten in deine Shorts gleiten, und zwar so, dass sie von deinem T-Shirt bedeckt bleibt. Vergiss nicht, den Laden rückwärts zu verlassen und immer zum Abschied zu winken.»
    Ein Junge war im Lager, bei dem ich das Gefühl hatte, dass ich mit ihm auskommen könnte. Er war aus Detroit, hieß Jason und schlief im Stockbett unter mir. Jason blickte beiseite, wenn er mit den anderen Jungens sprach, und ließ die Augen schweifen, als studiere er die Wetterbedingungen. Wie ich benutzte er seine Freizeit, um sich in der Embryonalstellung im Bett zusammenzukringeln und den Wandkalender anzustarren, auf dem er all die Tage ausgeixt hatte, die bereits überstanden waren. Wir beendeten gerade Punkt 7:15 h – 7:45 h Morgendliches Waschen und Zähneputzen der Lagerordnung, als unser Schlafsaal-Aufseher zum Aufsehen hereinkam und rief: «Was seid ihr, ein Haufen gottverdammter Tunten, die nicht anständig bettenbauen können?»
    Ich kicherte laut ob seiner Blödheit. Wenn jemand bettenbauen konnte, war das eine Tunte. Um die anderen musste man sich Sorgen machen. Ich sah, dass Jason ebenfalls lachte, und bald machten wir nur noch den Aufseher nach, indem wir einander erst als «Tunten» bezeichneten und dann als «stinkende Tunten». Wir waren «faule Tunten» und «Tunten mit Sonnenbrand», bevor wir schließlich zu «tuntigen Tunten» wurden. Gegen das Wort konnten wir nicht protestieren, denn das hätte bedeutet, dass wir seinen Wahrheitsgehalt akzeptierten. Wir konnten das Wort nur freudig als Scherz begrüßen. Wir verkörperten den Ausdruck in all seinem klischierten Glanz und trippelten und hüpften zur gegenseitigem Freude im Saal herum, wenn keiner hinsah. Mit Leichtigkeit übertrumpfte ich die Lehrer, denen es nicht gelungen war, die verschlungene Tollkühnheit der Rolle richtig auszuspielen. Tunte, als Wort, wurde immer in barschem, gnadenlosen Ton geäußert, wie er denen gebührte, die schwach oder dumm genug waren, ihren Impulsen zu leben. Wir gebrauchten es als Witz, als Anschuldigung und schließlich als Mutprobe. Spät in der Nacht spürte ich, wie mein Bett bockte und schwankte, und ich wusste, dass Jason entweder masturbierte oder Rührei machte. Denkt er jetzt an

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