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Nackt

Nackt

Titel: Nackt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Sedaris
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sagen.»
    «Und Gene war auch betrunken, hab ich recht?»
    «Ein kleines bisschen angeheitert», sagte Dinah. «Aber das ist so seine Art. Im Winter betrinken wir uns gern, wenn sonst nichts zu tun ist.»
    «Und ist das gut für deine Wiedereingliederung? Sind Besäufnisse und Schlägereien das richtige, wenn man keinen Ärger mehr kriegen will?»
    «Wir haben doch nur ein bisschen rumgemacht. Es ist dann ein bisschen außer Kontrolle geraten, mehr war nicht.» Lisa schien es nichts auszumachen, wenn die Frau sich blöd vorkam. «Gestern hast du mir bei den Warmhalteplatten gesagt, du willst dich endlich von dem miesen kleinen Schweinehund trennen und in die Tranchierabteilung hocharbeiten. Man muss eine ruhige Hand haben, wenn man den ganzen Tag Fleisch tranchieren will, meinst du nicht?»
    Dinah fuhr sie an: «Ich weiß nicht mehr alles, was ich bei den gottverdammten Warmhalteplatten gesagt habe. Was soll das, Kleine, ich hätte doch nie angerufen, wenn ich geahnt hätte, dass du mich halbtot laberst. Hier kannst du wenden; ich will nach Hause.»
    «Keine Sorge, ich bring dich nach Hause», sagte Lisa.
    Der traurige Stadtteil lag bald weit hinter uns, Dinah drehte sich noch ein paarmal um, blinzelte, konnte nichts erkennen, bis ihre Augen komplett geschlossen waren und sie einschlief. «Mom, das ist Dinah. Dinah, das ist meine Mutter.»
    «Na, Gott sei Dank», sagte meine Mutter, als sie unserem Gast aus der verschossenen Kaninchenfelljacke half. «Ich hatte schon Angst, Sie wären einer dieser gottverdammten Adventssänger. Ich hatte gar nicht mit Besuch gerechnet; ich sehe bestimmt ganz schrecklich aus.»
    Sie sah schrecklich aus? Dinahs Augen-Make-up war so verschmiert, dass sie einem schwachsinnig kostümierten Panda ähnelte, und meine Mutter entschuldigte sich für ihr Aussehen? Ich nahm sie ganz kurz beiseite.
    «Hure», flüsterte ich. «Diese Dame ist eine Hure.» Ich bin nicht sicher, welche Reaktion ich damit bezweckte, aber Schock wäre ganz schön gewesen. Stattdessen sagte meine Mutter: «Na, dann sollten wir ihr wahrscheinlich etwas zu trinken anbieten.» Sie ließ mich im Esszimmer stehen, und ich hörte zu, wie sie der Frau in alphabetischer Reihenfolge eine Liste von Angeboten machte: «Wir haben Bier, Bourbon, Gin, irischen Whiskey, Ouzo, Rum, Scotch, Wein, Wodka und irgendwas dickes Gelbes in einer Flasche ohne Etikett.»
    Als Dinah ihren Cocktail auf der sauberen Festtagstischdecke verschüttete, entschuldigte sich meine Mutter, als wäre es ihre Schuld, weil sie das Glas zu gut eingeschenkt hatte. «Dazu neige ich nämlich manchmal. Hier, ich mache Ihnen rasch einen neuen.»
    Als sie ein frisches, ungewohntes Lallen im Haus hörten, kamen mein Bruder und meine Schwestern eilig aus ihren Zimmern und versammelten sich, um Lisas Freundin zu untersuchen, welche die Aufmerksamkeit sichtlich genoss. «Engel», sagte Dinah. «Ihr seid eine ganze Meute gottverdammter Engel.» Sie war von Bewunderern umringt, und mit jeder Frage, jedem Kommentar, erhellte sich ihr Blick.
    «Was ist Ihnen lieber», fragte meine Schwester Amy, «die Nacht mit fremden Typen zu verbringen oder in einer Cafeteria zu arbeiten? Was sind die Gefängnisaufseher für Menschen? Tragen Sie gelegentlich eine Waffe bei sich? Auszuschweißendem berechnen Sie, wenn jemand sich nur auspeitschen lassen will?»
    «Erst die eine Frage, dann die nächste», sagte meine Mutter. «Lasst sie in Ruhe antworten.»
    Tiffany probierte Dinahs Schuhe an, während Gretchen in ihrer Jacke posierte. Der Geburtstagskuchen wurde aufgetragen und die Kerzen wurden angezündet. Mein sechsjähriger Bruder leerte Aschenbecher aus und errötete vor Stolz, als Dinah seine Tüchtigkeit lobte. «Dieser hier sollte in der Cafeteria arbeiten», sagte sie. «Er hat die Arme eines Geschirrabräumers und Augen wie ein stellvertretender Geschäftsführer. Dir entgeht rein gar nichts, was, Süßer? Mal sehen, ob er einer alten Dame schon nachschenken kann.»
    Vom Lärm geweckt, kam mein Vater aus dem Keller, wo er in Unterwäsche vor dem Fernseher gedöst hatte. Sein Eintreffen markierte im allgemeinen das Ende der Party. «Was zum Teufel treibt ihr hier um zwei Uhr morgens?», rief er gern. Es war seine Gewohnheit, drei bis vier Stunden zur tatsächlichen Uhrzeit zu addieren, um der Liederlichkeit, der er uns zieh, noch mehr Gewicht zu verleihen. Die Sonne mochte noch am Himmel stehen –, er behauptete, es wäre Mitternacht. Zeigte man auf die Uhr, warf er die

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