Nackt
schlau war.
«Na bitte.» Lisa fuhr rechts ran und parkte hinter einem Lieferwagen, dessen Halter seinen Platten mit einer Taschenlampe untersuchte. «Es könnte hier ein bisschen mulmig werden, also tu, was ich dir sage, dann kommt hoffentlich niemand zu Schaden.» Sie schwang sich das Haar über die Schulter, stieg aus und trat gegen die Dosen und Flaschen, die den Bordstein säumten. Meine Schwester meinte es ernst, was es auch war, und in diesem Augenblick wirkte sie schön und exotisch und gefährlich dumm. GESCHWISTER ERSCHLAGEN! ZUM ZEITVERTREIB! würden die Schlagzeilen lauten. FESTTAGSLAUNE ENDET TÖDLICH.
«Vielleicht sollte jemand beim Auto warten», flüsterte ich, aber sie war Vernunftgründen nicht mehr zugänglich und stürmte mit ihren sinnvollen Schuhen in einer schroffen, entschlossenen Gangart davon. Sie hielt sich nicht mit Hausnummer oder Klingelschild auf; Lisa schien genau zu wissen, wohin sie wollte. Ich folgte ihr in ein dunkles Vestibül und eine Treppe hinauf, wo sie, ohne auch nur zu klopfen, eine nicht abgeschlossene Tür aufstieß und in ein dreckiges, überheiztes Zimmer drang, welches nach kaltem Rauch, saurer Milch und ernsthaft schmutziger Wäsche roch –, drei Aromen, welche, vereint, dazu angetan sind, die Farbe von den Wänden blättern zu lassen.
Dies war ein Ort, an dem Menschen Böses zustieß, welche eindeutig nichts als das Schlimmste verdient hatten. Der befleckte Teppich war mit Zigarettenstummeln bestreut, und von der Zimmerdecke hingen überfüllte, staubbedeckte Fliegenfänger wie Vorhänge aus Perlschnüren. Am anderen Ende des Zimmers stand ein Mann neben einem umgestürzten niedrigen Tisch, beleuchtet von einer schirmlosen Lampe, die seinen Schatten, groß und bedrohlich, an die schmierige Wand zeichnete. Er war salopp mit T-Shirt und Unterhose bekleidet und hatte dünne, unbehaarte Beine von der gleichen Farbe und kieseligen Oberfächenbeschaffenheit wie bei einem im Geschäft gekauften Suppenhuhn.
Wir hatten offensichtlich gerade irgendein Unglücksritual unterbrochen, etwas, bei dem man Unflätiges rufen und gleichzeitig einen Halbschuh mit weißen Quastensenkeln gegen eine abgeschlossene Tür dreschen musste. Das nahm den Mann so vollständig in Anspruch, dass er ein paar Momente brauchte, bis er unsere Anwesenheit registrierte. Er blickte mit zusammengekniffenen Augen in unsere Richtung, ließ den Schuh fallen und stützte sich am Sims des Kamin-Imitats ab.
«Wenn das nicht Lisa Verdammtescheisse Sedaris ist. Hätt ich gleich wissen können, dass dieses verdammte Scheißweib ein Scheißweib wie dich anruft.»
Ich wäre weniger schockiert gewesen, wenn ein Seehund meine Schwester namentlich angesprochen hätte. Woher kannte sie diesen Mann? So betrunken, dass er nur noch taumeln konnte, unternahm dieser verkommene, versoffene Popeye einen Ausfall, und Lisa nahm eilig die Herausforderung an. Dann duckte ich mich und beobachtete, wie sie ihn am Hals packte und ihn zu Boden bzw. auf den umgestürzten Tisch warf, bevor sie die Fäuste zur Deckung hochnahm und tänzelnd einen engen Kreis beschrieb, bereit, es mit versteckten Neuankömmlingen aufzunehmen. Es war, als hätte sie ihr ganzes Leben in einen schwarzen gi gekleidet verbracht und in Erwartung dieses Augenblicks Dachlatten mit den bloßen Händen zertrümmert. Weder zauderte sie, noch rief sie um Hilfe, sie verpasste ihm lediglich ein paar flinke Tritte in die Rippen und fuhr in ihrer Mission fort.
«Ich hab doch nichts gemacht», stöhnte der Mann und sah mich mit blutunterlaufenen Augen an. «Du da, sag dem Scheißweib, ich hab doch gar nichts gemacht.»
«Wie belieben?» Ich bewegte mich unmerklich Richtung Tür. «Gottchen, ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll. Ich bin nur, wissen Sie, lediglich mitgekommen, auf eine kleine Spritztour.»
«Bewache ihn!», gellte Lisa.
Ihn bewachen? Wie? Wofür hielt sie mich? «Verlass mich nicht», schrie ich, aber sie war bereits weg, und plötzlich war ich allein mit diesem zerschmetterten Mann, der sich den Brustkorb massierte und mich anbettelte, ihm seine Zigaretten vom Sofa zu holen.
«Los, hol sie mir, Junge. Verdammte Scheißweiber. Mein lieber Schieber, das sind Schmerzen.»
Ich hörte die Stimme meiner Schwester und sah, wie sie aus dem Hinterzimmer fegte, eine clowneske, tränenbefeckte Frau unbestimmten Alters im Schlepp. Ihr Gesicht war runzlig und aufgedunsen. Der dicke, fette, marmorierte Körper hatte schon reichlich Meilen auf dem
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