Nackt
Tacho, aber ihre Kleidung passte nicht zur Jahreszeit und war auf absurde Weise jugendlich. Während die Freundinnen meiner Mutter zu den Feiertagen mit Vorliebe Maxiröcke und türkise Hopi-Halsketten trugen, hatte diese Frau den Versuch unternommen, die Verwüstungen, welche die Zeit angerichtet hatte, mit Hot Pants aus Jeansstoff und passender Weste wettzumachen, welche, von einem System überkreuzgeschnürter Wildlederstrippen zusammengehalten, einen gründlichen Blick auf ihre massigen Hängebrüste zuließ.
«Raus!», rief Lisa. «Los, mach schon!»
Ich war längst auf dem Wege.
«Meine Schuhe und, ach, ich nehm besser noch eine Jacke mit», sagte die Frau. «Und wo ich gerade dabei bin …» Ihre Stimme verklang, als ich die Treppe hinunterrannte, an den anderen ebenso dunklen und dünnen Wohnungstüren vorbei, hinter denen Menschen mit ihrem Geschimpfe das Gekreisch der Fernseher übertönten. Auf der Straße rang ich nach Luft und fragte mich, wie oft meine Schwester inzwischen niedergestochen oder -geknüppelt worden war, als ich hörte, wie die Fliegendrahttür zugeknallt wurde, und sah, wie Lisa auf der Veranda erschien. Sie blieb kurz auf dem Treppenabsatz stehen und wartete, während die Frau eine Jacke anzog und ihre Füße in ein paar Schuhe stopfte, die in Form und Farbe zwei identischen Farbbüchsen ähnelten. Zum Rennen angehalten, torkelte Lisas Freundin wie auf Stelzen dahin. Es war ein unbeholfener, nutzloser Gehstil, und bei jedem Schritt wedelte sie mit den Fingern, als spielte sie Klavier.
Zwei junge Männer, die eine Matratze trugen, kamen vorbei, der eine drehte sich um und schrie: «Schafft die Hu von der Straße!»
Wären wir in einer reicheren oder ärmeren Gegend gewesen, hätte ich den Boden nach einem Garten- oder landwirtschaftlichen Gerät abgesucht, von denen man nie genau weiß, wie sie heißen, um nicht wieder auf eins draufzutreten und mir mit dem Stiel die Lippe zu spalten. Hu. Ich hatte das Wort oft bei der Arbeit von den Köchen gehört, die dabei gerieben blickten und wissend kicherten, ganz wie die beiden jungen Männer mit der Matratze. Ich brauchte eine Sekunde, bis mir klarwurde, dass sie entweder Lisa oder ihre Freundin meinten, die sich gerade hingehockt hatte, um ein Loch in ihren Netzstrümpfen zu untersuchen. Eine Hure. Von beiden möglichen Nominierten schien mir die Freundin die wahrscheinlichere Kandidatin zu sein. Bei der Erwähnung des Wortes hatte sie den Kopf gehoben und leicht abgewunken. Diese Frau also war’s, und ich studierte sie, wobei mein Atem fach ging und sichtbar war in der kalten, dunklen Luft. Wie ein Heroinsüchtiger oder ein Massenmörder war für mich eine Prostituierte exotischer, als jeder Promi jemals hoffen konnte. Man sah sie in der Innenstadt, nach Einbruch der Dunkelheit, wie sie ihre scharfgeschnittenen Gesichter in die Fenster von Autos steckten, deren Fahrer auf Leerlauf geschaltet hatten. «He, Schnucki, wie viel verlangst du für einmal Abschmieren?», rief mein Vater. Ich wollte immer, dass er mal rechts ranfährt, damit man sich das genauer ansehen kann, aber nachdem er seinen kleinen Kommentar gemacht hatte, drehte er das Fenster hoch und raste, leise in sich hineinlachend, davon.
«Dinah, das ist David. David, Dinah.» Lisa stellte uns einander vor, nachdem wir uns im Auto niedergelassen hatten. Offenbar arbeiteten die beiden im K & W und hatten sich angefreundet.
«Ach, dieser Gene ist ein richtiger Hitzkopf», sagte Dinah. «Er will mich ganz für sich, hab ich dir ja erzählt, und er liebt mich nun mal; was willst du machen. Vielleicht fahren wir einfach ein paarmal um den Block, damit er sich ein bisschen abkühlen kann.»
Sie zündete sich eine Zigarette an, ließ sie fallen und senkte den Kopf mit der hochtoupierten Frisur, bevor sie sagte: «Naja, ist auch nicht das erste Auto, das ich in Brand gesteckt habe.»
«Hab sie gefunden!» Lisa hielt sich die Zigarette an die Lippen, inhalierte tief und ließ den Rauch durch die Nasenlöcher wieder heraus. Ein Anfänger wäre daran erstickt, aber sie paffte wie ein verwitterter alter Prof. Welche weiteren Tricks hatte sie in letzter Zeit gelernt? Hatte sie ein Päckchen Heroin in der Tasche? Hatte sie sich angewöhnt, Messer zu werfen oder Billard zu spielen, während wir in unseren Bettchen schliefen? Sie starrte nachdenklich auf die Fahrbahn und fragte dann: «Dinah, bist du betrunken?»
«Jawoll, Ma’am, das bin ich», antwortete die Frau. «Das kann man wohl
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