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Nackt

Nackt

Titel: Nackt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Sedaris
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betreten, aber als ich es verließ, benommen und von Süßigkeiten aufgedunsen, war es dunkel, und es regnete. Ich überlegte, ob ich meine Mutter anrufe, damit sie mich abholt, aber sie war nicht da, weil sie für die Pfadfinderinnentruppe meiner Schwester Amy Kartoffeln in Alu-Folie verpackte. Damit blieb nur mein Vater. «Ich bin in fünf Minuten da», sagte er. Im Hintergrund hörte ich, wie jemand die Formulierung «drei Achtel» gebrauchte. Das bedeutete nicht drei Achtelzoll oder drei Achtel plus fünf Achtel oder irgendwas, sondern drei Achtel von einem Punkt, und das bedeutete, dass er die Börsennachrichten sah und für den Abend bereits die Hose ausgezogen hatte.
    Eine Stunde später rief ich wieder an und er sagte: «Ich bin eben gerade zur Tür raus.» Am anderen Ende der Leitung lachte und johlte ein Studiopublikum. Die SitComs hatten angefangen. Das bedeutete, dass er auf seinem Sessel eingeschlafen war. Da saß er dann schnarchend, bis jemand versuchte, ein anderes Programm einzuschalten. «Was machst du da?», brüllte er. «Siehst doch, dass ich das gerade kucke!»
    Noch schlimmer war es an Wochenendnachmittagen, wenn man anrief, um sich abholen zu lassen, und nichts im Hintergrund hörte. Das bedeutete, dass er Golf sah, Stunden der Stille, nur hin und wieder vom Kommentator unterbrochen, der flüsterte: «Das war Bogey, Bogey und Doppelbogey für Hogan, der mit neun über dem Par heute hier in Oakland Hills ins vierte kommt.»
    Man konnte aus seinen Klamotten herauswachsen, wenn man darauf wartete, dass mein Vater einen abholte. Ich rief zum drittenmal an und er sagte groggy und verwirrt: «Welcher David? Was für ein Film? Wo?»
    Ich verließ das Einkaufszentrum mit dem Kino, ging über die Straße und hielt den Daumen nach rechts. So einfach war das. Mein Vater hielt immer an, um Tramper mitzunehmen. Selbst wenn wir alle schon dicht gedrängt auf dem Weg zum Schwimmen oder zum Einkaufen im Kombi saßen, fuhr er rechts ran und wies uns an zusammenzurücken, wir hätten Besuch. Es war immer aufregend, einen Fremden im Auto zu haben, junge Männer, die wir mit Fragen quälen konnten. Unser Vater, dessen Cocktail zwischen seinen Beinen klimperte, war nach außen hin liebenswürdig, aber auch argwöhnisch. Er spielte mit unseren Gästen und tat, als wären ihre Geschichten genau das, Geschichten, etwas, was sie sich unterwegs ausdachten.
    «Na schön, ‹Rudy›, dann fahr ich Sie mal zu Ihrer ‹Großmutter›, damit Sie Ihre ‹Wäsche› abholen können.» Dann schüttelte er den Kopf und lachte in sich hinein. «Bin immer froh, wenn ich einem netten jungen Mann wie Ihnen helfen kann.»
    «Nein, wirklich», sagte unser Passagier. «Sie ist tatsächlich meine Großmutter. Ich schwör’s Ihnen.»
    «Jetzt schwört er auch noch», sagte mein Vater. «Dem Ingenieur ist nichts zu schwör.»
    Solang sie noch jung waren, nahm er sie mit großem Vergnügen mit; aber die alten –, die konnte man vergessen. Wir sahen einen gebeugten und wettergegerbten Opa neben einem abgewetzten Koffer und riefen: «Da ist einer! Dad, halt an!» Unser Vater ignorierte unseren Wunsch und fuhr an diesen Männern vorbei, als wären sie ausgeschnittene und ausgemalte Anzeigen für Etablissements wie «Au Petit Clochard» oder «Zum fidelen Penner».
    Ich hielt den Daumen in die Luft und war sicher, jemand wie mein Vater würde mich mitnehmen, aber stattdessen war es eine ältere Frau, die Frisur durch ein Plastikhäubchen geschützt. Sie kurbelte ihr Fenster herunter und brüllte, als hätten wir seit mehreren Jahren Zoff miteinander: «Verdammter Bengel, beweg gefälligst deinen traurigen Hintern in dieses Auto rein.»
    Sie trug eine hellblaue Uniform, was auf die Kassiererin einer hiesigen Supermarktkettenfiliale schließen ließ. «Was bist du, vierzehn, fünfzehn Jahre alt? Ich hab einen Enkel etwa in deinem Alter, und wenn ich den jemals beim Trampen erwische, trete ich ihm so tief in den Arsch, dass ich einen neuen Schuh brauche. Was zum Teufel fällt dir ein, lässt dich von Fremden mitnehmen? Was ist, wenn ich eine Pistole oder ein Klappmesser habe? Du könntest dich doch gegen keine Hauskatze wehren, und sag mir bloß nicht was anderes, deine Sorte kenne ich nämlich schon, Herr Schlaumeier, nur allzu gut kenne ich deine Sorte. Was sagt denn deine Mutter zu solchen Dummheiten? Wo sind überhaupt deine Leute?»
    «Meine Eltern?» Ich zögerte kurz, weil mir klarwurde, dass ich dieser Frau die Wahrheit gar nicht zu

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