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Nackt

Nackt

Titel: Nackt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Sedaris
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sagen brauchte. Wahrscheinlich sieht sie mich sowieso nie wieder; und wenn doch, wieso soll sie mich wiedererkennen? Ich sagte ihr, mein Vater sei auf einer Friedenskonferenz in Stockholm, Deutschland, und meine Mutter sei Fernfahrerin auf dem Weg zur Westküste mit einer Ladung … Strumpfhosen.
    «Genau», sagte die Frau und stopfte ihre Zigarette in den schwelenden Aschenbecher, «und auf meinem Hinterhof stille ich aus blankem Übermut Kamelbabys. Sag mir einfach, wo du wohnst, Pinocchio, und spar dir den Quatsch mit Soße fürs Mittagessen auf.»
    Sie fuhr in unsere Einfahrt, als mein Vater gerade das Haus verließ, um mich abzuholen. «Fernfahrerin am Arsch, wo er am rosigsten ist», sagte sie. «Jetzt möchte ich, dass du in dein schickes Haus gehst und da drin bleibst, bevor dir jemand seine Initialen in den Schädel schnitzt. Diesmal hast du Glück gehabt, aber wenn ich dich je wieder da draußen erwische, überfahre ich dich, nur um dir das Elend zu ersparen.»
    Ich begann, regulär per Anhalter zu fahren. Außer dass es bequem war, machte es mir Spaß, mit Leuten zusammenzusein, die nichts über mich wussten. Ich konnte mich nach Lust und Laune neu erfinden und probierte jeweils die Persönlichkeit an, die zu meiner Stimmung passte. Ich war Broadway-Schauspieler, der für eine bevorstehende Inszenierung den hiesigen Akzent studierte, oder vielleicht ein kalifornischer High-School-Schüler, der hier seinen Vater ausfindig machen wollte, den er nie kennengelernt hatte. «Es heißt, er höre auf den Namen T-Bone, aber das ist auch schon mein einziger Anhaltspunkt.»
    Manche Leute hielten fast so an, als hätten sie mit mir gerechnet; andere wurden erst langsamer und musterten mich, bevor sie endgültig anhielten. Es waren schwarze Geistliche und pensionierte Schlosser, Rettungsschwimmer, Tanzlehrer und Parkettabschleifer, und meistens waren sie allein. Raleigh war nicht so groß, und den meisten Menschen machte es nichts aus, für einen Fremden einen Umweg von einer bis zwei Meilen zu fahren. «Sie sollten etwas mehr Zeit hier verbringen, Maurice», sagten sie. «Es ist eine freundliche Stadt mit vielen Entfaltungsmöglichkeiten für einen talentierten Konzertpianisten wie Sie.»
    Ich trampte nie aus der Stadt heraus, bis ich aufs College ging und mich einem Mädchen namens Veronica anschloss, dessen Leben einer der Geschichten ähnelte, die ich erfunden hatte. Ihre Mutter war gestorben, als sie an eine eiserne Lunge angeschlossen war, die im Esszimmer der Familie stand. Zu der Zeit war Veronica vierzehn und machte, als sie davon erfuhr, gerade ihren ersten LSD-Trip durch. «Wenn man jemandem einen echt guten Trip vermiesen will, dann ist das die richtige Methode», sagte sie. Ihr Vater hatte in den letzten vier Jahren zweimal neu geheiratet und sie durch zwei komplette Stieffamilien gezerrt. Diese Erfahrung hatte sie gelehrt, sich allein durchzuschlagen. Sie war abenteuerlustig und auf eine Weise selbständig, die ich noch nie kennengelernt hatte, sowie in den Künsten Camping, Zigarettendrehen und Unbemerkt-aus-Fenstern-im-1.-Stock-Abhauen bewandert. Unser College-Gelände lag isoliert in den Bergen des westlichen North Carolina, weit von den gefeierten touristischen Attraktionen der Region entfernt. Wir fingen mit Tagesausfügen an, zuerst nach Gatlinburg, um uns nachgemachte Indianer anzusehen, und dann nach Cherokee, zu den richtigen.
    Sie war jemand, der es gewohnt war, das Kommando zu übernehmen; gemeinsam überquerten wir die Grenzen des Bundesstaats und trampten bis hin nach Nashville und Washington, D. C. Am Ende des Schuljahrs ging ich nach Kent State ab, und Veronica haute ab nach San Francisco, wo ihr Bruder ihr einen Job in einem Kino besorgte. Durch ihre Briefe erschien mir mein Leben hoffnungslos langweilig und vorhersehbar. «Ich könnte Dich hier unterbringen wie nix!», schrieb sie. «So viel Popcorn und Bonbons, wie Du runterkriegst, und kostet dich keine 5 Cent. Filme gratis, sauberes Scheißhaus …: Was willst du mehr?»
    Ich brauchte ein Jahr, bevor ich beschloss, ihr zu folgen. Ich trat die Reise mit einem College-Studenten im vierten Semester namens Randolph Feathers an, den ich auf einer Party kennengelernt hatte. Randolph kreierte sein eigenes Hauptfach, Beat-Literatur, ein Thema, welches, soweit es mich betraf, keine weitere Aufmerksamkeit verdiente. Seine Sammlung fleckiger Taschenbuch-Erstausgaben reflektierte seinen Glauben, dies sei eine spirituelle Reise, von seinen

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