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Nackt

Nackt

Titel: Nackt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Sedaris
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Minuten belaufen hatte. Uns standen eine halbe Stunde Mittagspause zu, und dann noch mal dreimal zehn Minuten, die einem vor den Augen zerronnen, während man noch versuchte, die klammen Finger um eine Zigarette zu schließen. Das Essen kam aus Münzautomaten, die in einem Raum aufgestellt waren, aus dem man den vollen Blick auf die Fabrikhalle hatte, damit man, während man sein Sandwich kaute, nicht vergaß, wo man es verdauen würde. Außer mir waren alle Bandarbeiter Frauen mittleren Alters, die die Sortier- und Verpacksaison ertrugen und dann noch für die Konservenabfüllung blieben. Ihre Vorarbeiterin war eine stämmige, sachliche Frau namens Dorothy, die die Football-Jacke ihres Sohnes unter einer schmutzigen Schürze trug, auf welcher die Worte HALT’S MAUL UND ISS! standen.
    «Ich kann dir zum Thema Gewerkschaft nur sagen, dass sie, wenn sie an meinen zusätzlichen mir zustehenden Leistungen rummachen, sich ihre Zähne einzeln zwischen meinen blutenden Fingerknöcheln herauspolken können», sagte sie. «Und dafür werde ich persönlich sorgen!»
    Sie führte mich zu einem Schwarzen Brett mit dem Protokoll des letzten Meetings. In jedem Satz kamen eine Menge Abkürzungen vor, und bald fragte ich nicht mehr, was sie bedeuteten. Verglichen mit einer namentlichen Abstimmung über Abfindungen, kam mir alles, sogar mein Job, aufregend vor. Bis es so weit war, dass ich für zahnärztliche Versorgung infrage kam, war ich so alt, dass ich ein Gebiss brauchte, keine Füllungen. «Du würdest dich wundern», sagte Dorothy. «Das haben die Jahre so an sich, dass sie mehr werden, nicht weniger.»
    Das war mir klar, aber konnten sie nicht mehr werden, ohne so wenig zu bedeuten?
    Eines Abends machten wir Pause, und ich fragte, ob jemand vielleicht zufällig Italienisch sprach. «Ich hab das auf dem College ein Jahr lang gelernt», sagte ich, «und jetzt habe ich das Wort für ‹Tragödie› komplett vergessen. Spanisch kann ich natürlich auch, und ein Quentchen Griechisch, aber Italienisch ist nun mal so, nun, bellissimo, stimmt’s?»
    Meine Versuche, sie zu beeindrucken, scheiterten kläglich. Fortan nannten mich die Frauen Einstein. «Dass du ein Schlauer bist, wusste ich gleich, als du in den Apfel gebissen hast», blökte Trish. «Da habe ich mir gesagt: Da hat aber mal jemand einen guten Kopf auf den Schultern.»
    Der Pausenraum füllte sich mit Gelächter. «Hey, Einstein, was heißt ‹Windbeutel› auf lateinisch?»
    «Sag mal, Einstein», fragte Dorothy, «fünf Punkte, wenn du weißt, welche hiesige High-School-Football-Mannschaft es ins Oregon-Finale schafft.»
    «Ach, lasst den Kleinen doch zufrieden.» Dies war eine Männerstimme, die irgendwo hinter mir erklang. «Der Typ hat über Besseres nachzudenken als über deinen fettärschigen Sohn, der für die trübseligen Miezekatzen als Manndecker herumläuft.»
    «Mein Junge ist Quarterback», rief Dorothy. «Und zu deiner Information heißen sie die Wildkatzen und sind Kreismeister! Steck dir das hinter den Spiegel.»
    Der Mann machte ihr eine lange Nase und bedeutete mir, ich solle an seinem Tisch Platz nehmen. «So ein blöder Hühnerhaufen, aber mach dir nichts draus; sie kriegen alle, was sie verdienen. Sobald sie zu alt zum Eierlegen sind, drehen wir ihnen auf dem Hinterhof den Hals um.»
    «Pass bloß auf, Alter», sagte Dorothy und zerrte an ihren Schürzenbändern.
    Der Mann stellte sich als Timothy vor und fügte hinzu, alle seine echten Freunde sagten Curly zu ihm, was ein seltsamer Kosename war, wenn man bedachte, dass seine weizenblonden Haare ihm glatt von der erkahlenden Kopfhaut herunter wuchsen. «Es muss schwer sein für jemanden wie dich, in so einem Loch wie diesem gefangen zu sein. Diese blöden Kühe haben was gegen Leute mit Verstand und vernünftiger Bildung; da fühlen sie sich in der Falle und bedroht, und das mögen wir ja nicht, nein, das mögen wir ganz und gar nicht. Himmel noch mal, so was ertraaaaaagen sie nicht.» Er schauderte und verschränkte die Arme, als hätte er Angst.
    «Ich weiß genau, was du hier durchmachst, denn wir beide sind uns sehr ähnlich», sagte er. «Ich bin wahrscheinlich mindestens fünfzehn Jahre älter als du und auch nicht entfernt so schlau wie du, aber im Januar gehe ich auf die Volkshochschule und belege einen Kurs in Betriebswirtschaftslehre. Es wird Zeit, die alte Denkmütze anzulegen und zur Abwechslung hart zu arbeiten. Ich hab schon genug Zeit verplempert.» Curly war irgendwie nicht ganz

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