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Nackt

Nackt

Titel: Nackt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Sedaris
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solange die vollgefressenen Daddys da oben nicht bereit sind, ihre Cadillacs zu parken und über einen anständigen Lohn zu verhandeln, solange kann ich nur dies zu ihrem Kontrakt sagen.» Meine Teamster(oder so)-Genossen würden auf ihren Klappstühlen stehen und hurra schreien, während ich den Kontrakt zu Schnipseln zerriss, um ihn sodann leichthin über die linke Schulter zu werfen.
    Bisher hatte ich nicht einmal ein Abendessen organisiert, aber das würde sich bestimmt ändern, sobald meine Kollegen merkten, wie gut ich das gesprochene Wort beherrschte und was für natürliche Führungsqualitäten ich besaß, die ich sämtlich im Namen der Demut unterdrückt hatte. Ich hatte immer schon gewusst, wie der einfache Mann zu nehmen war, hatte immer darauf Wert gelegt, ihn aufzuheitern, ohne auf sein vergeudetes, leeres Leben hinabzublicken. Wenn diese Menschen mich zu ihrem Führer machen wollten, hatte ich keine andere Wahl, musste ich dies mit der mir eigenen stillen Würde akzeptieren. «Da-vid, Da-vid, Da-vid.» Der Fußboden des Versammlungssaals würde von ihren Sprechchören erzittern.
    Falls all dies, was wenig wahrscheinlich war, nicht geschehen sollte, würde ich wenigstens Schulter an Schulter mit anderen Menschen arbeiten. Sie mochten nicht so aufnahmefähig sein wie ich, aber immerhin begrüßte ich die Möglichkeit, mit etwas zu sprechen, was ohne Stiel oder Schwanz geboren war. Irgendwo in dieser Halle wartete ein Freund. «Ich habe es gewusst, als ich dich zum ersten Mal sah», würde die betreffende Person später beim Abendessen sagen. «Ich sah nur einmal hin und habe mir gesagt: ‹Verdammt, diesen Typ würd ich gern kennen.›»
    Ich wurde für die zweite Schicht eingestellt, von 15 bis 23 Uhr. Mein Job bestand darin, an der richtigen Stelle zu stehen und die Blätter von den Äpfeln zu rupfen, wenn sie auf dem Fließband an mir vorbeizogen. Keine 1,20 Meter von mir entfernt stand eine Frau, aber das konstante Geratter machte es unmöglich, eine Diskussion aufrechtzuerhalten. Gabelstapler dröhnten im Hintergrund, während Männer hölzerne Paletten zurecht sägten und zusammenhämmerten. Sprühdüsen, Fließbänder und Generatoren …: der Lärm drückte einen runter, erbarmungslos. Die Türen zur Verladerampe standen stets offen, damit sich niemand über die Hitze beschweren konnte. Ich pflückte die Blätter vom dahineilenden Obst und warf sie auf einen kalten, nassen Haufen, der schnell wuchs, um meine abgestorbenen Füße zu bedecken. Während der ersten Stunde machte ich den Fehler, in einen der Äpfel zu beißen. Frisch aus dem Chemiebad gekommen, verbrannte er mir die Lippen und das Fleisch meiner Mundwinkel, und er hinterließ noch lange einen brüsken Nachgeschmack, als ich längst aufs Klo gerannt und mir den Mund mit Seife ausgewaschen hatte.
    Hobbs hatte recht gehabt, als er sagte, ich würde nie wieder einen Apfel sehen wollen, nur zeitlich hatte er sich vertan. Bereits nach den ersten fünfundvierzig Minuten war ich bereit, sie aus meinem Gesichtsfeld zu verbannen. Sie kannten keine Gnade, flössen ohne Unterbrechung vierundzwanzig Stunden lang aufs Fließband und machten den Hunger in der Welt zu einem Mythos oder zu einem Witz, einem grausamen. In einer einzigen halben Stunde hatte ich bestimmt mit genügend Äpfeln zu tun gehabt, um jeden Mann, jede Frau und jedes Kind zu füttern, die auf dieser Welt genügend Zähne hatten, um in ihn zu beißen, oder genügend Willenskraft, ihn zu Apfelmus zu zermatschen.
    Es fiel mir bei, dass alles, was wir kaufen, von irgendeiner Blödmännin mit Haarnetz überm Kopf und Watte im Ohr angetickt und eingetütet wird. Jeder Maiskolben, jedes schokoladebeschichtete Rosinchen und Schuhband. Jede Grillzange, jeder papierene Partyhut, jeder nicht selbstgestrickte Topflappenhandschuh trägt eine Geschichte von Unterwerfung und Elend in sich. Vegetarier sehen einen Schweinebraten und denken an das Tier. Ich sehe jetzt die Vegetarier an und frage mich, wer denn wohl die Schweineteile auf die kleinen Styropor-Platten gepackt und dort eingeschweißt hat. Da liegt die echte Tragödie. Zigaretten, Kekse, Kaugummi: alles, was ich in Zukunft sehen sollte, war mit dem Makel der Erinnerung an meinen Ausfug in die Arbeitswelt befleckt. «Kolleginnen und Kollegen, RENNT! RENNT! RENNT UM EUER LEBEN!»
    Die Zeit kroch. Ich hob den Schaft meines Gummihandschuhs, kratzte den Frost von der Armbanduhr und stellte fest, dass sich die letzte Stunde auf schlappe sieben

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