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Nackt

Nackt

Titel: Nackt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Sedaris
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die Buchstaben bedeuteten, und er sagte, ich solle mal raten. Er schien ein Mittfünfziger zu sein, mit teigigem, quadratischem Gesicht, einer Brille mit schwerem, schwarzem Rahmen und einem silbernen Bürstenhaarschnitt.
    «Los, rate mal», sagte er.
    Cousin of Godzilla?, dachte ich. Clobiger oller Gauner? Cholesteringef ährdeter Ost-Gote?
    «Ich komm beim besten Willen nicht drauf», sagte ich.
    «Child of God», sagte er. «Auch du bist eins! Da hattest du nun immer schon diesen glorreichen Titel und wusstest es nicht mal! Ich habe ihn mir sogar auf meine Schecks drucken lassen. Wenn der Mann da oben sie auch noch einlöst, bin ich ganz groß im Geschäft. HA!» Er wandte sich an sein Autodach. «War nur ein Scherz, o Herr.» Jon sagte, er könne mich bis nach Odell hinein mitnehmen, müsse aber erst noch kurz beim Studio vorbeischauen. Ich fragte, was er da mache, und er sagte: «Ich bin Künstler, das mache ich da. Schon mal einen Künstler kennengelernt? Manchmal benehmen wir uns vielleicht ein bisschen merkwürdig, aber keine Sorge, Kleiner, ich bin geimpft und hab bisher noch keinen gebissen.»
    Er bog in eine Wohnstraße und hielt vor einem Haus, das mit den Überresten von Halloween dekoriert war. Durchweichte Gespenster hingen an den Bäumen, vom Morgenregen gequollen, der ausgehöhlte Kürbis war eingeschrumpelt, und sein einst vergnügtes Gesicht ähnelte dem einer zahnlosen, sonnenverbrannten Mumie. «Diese freundlichen Menschen sind Mitglieder meiner Kirche», erklärte er. «Ich habe ihnen gesagt, ich suche ein Studio, und da haben sie mir ihren Kellerschlüssel gegeben. Einfach so.» Er lächelte und schüttelte beim Gedanken an sein günstiges Geschick den Kopf. «Du wirst die tollsten Menschen der Welt kennenlernen, und sie leben hier, in dieser Stadt», sagte er. «Naja, ich glaube, dich brauche ich nicht daran zu erinnern. Du hast ja schon einen kennengelernt.»
    «Wen?»
    «Mich, du Idiot!», Er griff nach zwei Aluminium-Spazierstöcken, die neben ihm lagen, und stützte sich beim Aussteigen auf sie. Ich folgte ihm und tat, als nähme ich die unmissverständlichen Geräusche nicht wahr, die aus seiner Hose drangen. Entweder litt er unter einem besonders schweren Fall von Flatulenz, oder in seiner Gesäßtasche saß ein Knirps, der Trompete übte. «Fühlst du dich stark genug, etwas Erstaunliches zu sehen?», fragte er. «Dann halte mal schön deine Socken fest, denn der Anblick wird dich geradewegs aus den Socken hauen.» Er öffnete die Tür zu einem Kellerraum, der mit einer Waschmaschine und einer Trockenschleuder ausgerüstet war. In der anderen Ecke des Raumes standen mehrere große, schmuddelige Maschinen mit unklarem Verwendungszweck. Er knipste die Deckenbeleuchtung an und wuchtete sich in Richtung eines Felsbrockens, der in einem Kasten mit rostfarbenem Wasser ruhte. «Ta-ta-ta- taa! Na, wie geht’s den Socken? Noch alles dran?», fragte er.
    Mich beschlich das deutliche Gefühl, etwas nicht mitzukriegen, was doch so offensichtlich war.
    «Das ist Jade!» Die Augen des Mannes funkelten. «Und ich hab noch viel, viel mehr, wo das herkommt. Ist vielleicht nicht allerbeste Qualität, aber immerhin, es ist genug da, um mich zehnmal zum reichen Mann zu machen, wenn ich keine Scheiße baue und nicht wieder anfange zu saufen, gleich dreimal auf Holz klopfen.» Er setzte sich, pochte gegen seine Knie und verursachte ein hohles Geräusch.
    Ich war sprachlos.
    «Dreimal auf Holz klopfen gefällig? Nur zu; freie Auswahl. Ein Bein ist so gut wie das andere.» Er zog die Hosenbeine hoch und enthüllte glatte, kittfarbene Waden. «Sie sind nicht echt aus Holz; da hab ich dir ein Bein gestellt. Ha! Nicht schlecht, was? Oder, anders ausgedrückt, ganz schön beinlich! Nein, sie sind voll aus Plastik, und sie gehören mir, und ich will sie auch behalten.» In einer gespielten Abwehrhaltung umklammerte er seine Knie.
    Der Mann war eindeutig eine Art Wahnsinniger, vielen anderen Menschen nicht unähnlich, die mich per Anhalter mitgenommen hatten, aber bei diesem wusste ich mit Bestimmtheit, dass ich ihm, wenn es darauf ankam, wegrennen konnte. Vielleicht blieb ich deshalb und hörte ihm zu, wenn er von den vielen Jahren erzählte, die er in Alaska verbracht hatte. Das war auch so eine Gegend, in die mich nichts zog. Meine Kinderphantasien mit Eisbären und lächelnden Eskimos, die einander durch die gefrorene Tundra jagten, waren durch Zeitschriftenartikel über Städte mit hohen Lebenshaltungskosten

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