Nacktes Land
ernsthaft und ungezwungen über den bevorstehenden Tag.
»Ich möchte dir erklären, wie ich die Lage beurteile, Mary. Das kann falsch sein, aber im Moment sehe ich keine andere Möglichkeit.«
»Du kannst wirklich nicht mehr von dir verlangen, Neil. Also fang an.«
»Ich bin dafür, daß wir die Myalls vergessen und uns nur noch auf die Suche nach deinem Mann konzentrieren. Die Stammesfehde ist jetzt nicht so wichtig, um die kann ich mich später immer noch kümmern. Auf der anderen Seite könnten wir einen ganzen Tag verlieren, ohne die geringste Spur von deinem Mann zu finden. Billy-Jo ist der beste Fährtenleser im Territorium. Aber auch er kann keine Wunder vollbringen, verstehst du?«
»Natürlich.«
»Dabei gehe ich von der Voraussetzung aus, daß dein Mann tot ist. Alle Anzeichen sprechen dafür. Heute ist schon der dritte Tag, und wir wissen ja, daß er ziemlich schwer verletzt war. Der einzige Mensch, von dem wir irgend etwas erfahren können, ist der Mann, der ihn verfolgt hat – Mundaru. Hinter dem sind die Kadaitjamänner her, und sie werden ihn erwischen – todsicher.«
»Aber wie kann er dir dann weiterhelfen?«
»Bei einem Kadaitjamord bleibt das Opfer noch ein paar Stunden am Leben. Das ist der Sinn des Rituals: nicht die Hand eines Menschen, sondern eine magische Kraft bringt den Tod. Wenn ich den Mann erwische, bevor er stirbt, kann ich vielleicht noch etwas aus ihm herauskriegen. Aber versprechen kann ich das nicht … Wenn wir das nicht schaffen, wollen Billy-Jo und ich für den Rest des Tages das Sumpfgebiet durchkämmen.«
»Neil?«
Zärtlichkeit und ein Anflug von Mitgefühl lagen in ihrer Stimme.
»Du bist ein guter Polizist, glaube ich.«
»Ich freue mich, daß jemand so von mir denkt.«
Er küßte sie flüchtig, goß den Rest seines Kaffees ins Feuer und wollte sich gerade den Pferden zuwenden, als der erste dröhnende Laut des Bullengebrülls über den Sumpf herüberschallte. Alle drei erstarrten: Billy-Jo beim Festzurren eines Gurtes, Adams mitten im Gehen, Mary mit dem Blechbecher vor dem Mund. Selbst in dem nüchternen, kalten Morgenlicht schlugen die primitiven Mächte sie in ihren Bann.
Billy-Jo warf den Kopf zurück wie ein lauschender Hund, und mit eindringlicher Gebärde stieß seine Hand nach vorn.
»Da hinten, Boss. Weit weg. Hinter Sumpfland.«
Adams nickte.
»Wir wollen versuchen, es zu umgehen. Kein Grund, uns da mitten durchzuschlagen.« Er wandte sich an Mary. »Bevor wir aufbrechen, Mary … du reitest zwischen Billy-Jo und mir. Gleichgültig, was passiert, behalt deine Nerven. Und tu genau, was ich dir sage, klar?«
»Klar.«
»Dann also los.«
Er hob sie in den Sattel, und sie ritten los, Neil Adams voran, hinter ihm Mary, als letzter Billy-Jo, der auch das Packpony führte. Sie ritten durch die Furt, erkletterten die steile Böschung und trabten dann auf dem schmalen Streifen zwischen den Büschen und dem Rand des Graslandes stromaufwärts.
Sie waren vielleicht eine halbe Meile geritten, als das Brüllen jäh abbrach. Neil Adams hielt an, und sie warteten, während er sich in den Steigbügeln aufrichtete und das Sumpfgebiet überblickte, dessen Gräser leicht im Morgenwind wogten. Nach ein paar Minuten ließ er sich wieder in den Sattel fallen, gab dem Pferd die Sporen und setzte im Galopp davon; die anderen dicht hinter ihm her.
Mary Dillon war wie in einer Art Trance. Sie war sich ihrer Umgebung zwar bewußt, aber völlig in ihre Erinnerungen versunken. Sie spürte alles und sah alles: das Muskelspiel ihres Pferdes, die peitschenden Äste und Zweige, den sausenden Wind in ihrem Gesicht, das junge Morgenlicht, welches sich über Land und Himmel ergoß, und vor sich Neil Adams als galoppierenden Zentauren. Doch ihre Gedanken schweiften zurück: zum Flußufer, zur Farm, zu der plötzlich aufgeflammten Leidenschaft, welche sie in Neil Adams' Arme getrieben hatte, zu dem langsamen Sterben ihrer Liebe zu Lance, zu dem einen wichtigen Augenblick, der ihre Welt und ihre Beziehung dazu so völlig verwandelt hatte.
Sie hatte solche Veränderungen schon früher bei anderen Frauen beobachtet, ohne sie jedoch zu begreifen – bis jetzt. Die Wandlung zum Besseren oder Schlechteren war erschreckend endgültig. Man ging sonderbar befreit daraus hervor, man war plötzlich frei in einem fremden Land, das Geheimnisse barg, die man in der Zeit der Gebundenheit und Treue nicht vermutet hatte. Es war die uralte Geschichte von Eva und dem Baum der Erkenntnis, als
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