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Nadelstiche

Nadelstiche

Titel: Nadelstiche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Baden & Kenney
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nicht alle beiden jungen Männer, nicht wahr? Was ist denn mit dem anderen?«
    »Gegen ihn wurde keine Anklage erhoben. Er ist Diplomatensohn – deshalb genießt er Immunität.«
    Der Doktor atmete schwer durch, und gleichzeitig war im Handy ein Ping zu hören, als ein Computerprogramm aufgerufen wurde. »Ah, da hab ich ja die Termine für morgen. Ich glaube, wir könnten Sie um zwei oder um halb fünf dazwischenschieben.«
    »Dann nehme ich halb fünf.«
    Dr. Costello seufzte. »Fair ist das nicht.«
    »Na, wenn Sie meinen … Wir können auch einen regulären Termin machen.«
    Dr. Costello lachte. »Nein, ich meinte, es ist nicht fair, dass manche Leute offenbar außerhalb des Gesetzes stehen dürfen. Wir behaupten, in einem auf Gleichheit beruhenden System zu leben, aber das stimmt nicht. Wenn dem so wäre, bräuchten wir keine Anwälte wie Sie.«
    Manny beschleunigte und rollte zwei Wagenlängen weiter Richtung Brückenende. Seit dem ersten Semester ihres Jurastudiums hatte sie mit niemandem mehr gesprochen, der dermaßen idealistisch war. Sie wiederholte das, was der Professor ihr damals eingebläut hatte. »Das Rechtssystem ist niemals perfekt. Aber solange ich mir Gehör verschaffen kann, funktioniert es.«
    »Ich hoffe, Sie haben recht.«
    Aus unerfindlichen Gründen setzten sich die Autos vor Manny in Bewegung. Sie kam auf die Schnellstraße, die von Brooklyn nach Queens führte, und genoss das Gefühl, mit fünfzig Meilen die Stunde dahinzurollen. Jetzt konnte sie nachvollziehen, warum die Kalifornier alles, was im zweistelligen Bereich lag, schon als Raserei bezeichneten.

22
    Manny hielt neben der letzten Parklücke auf der Rosamond Street. Ein Passant, der offenbar nicht glaubte, dass sie den Porsche hineinmanövrieren könnte, schüttelte den Kopf. Aber mit ein paar geschickten Lenkraddrehungen parkte Manny den Wagen gekonnt ein. Der Erfolg beim Einparken hing wie bei so vielen anderen Dingen im Leben und in der Juristerei vor allem von der inneren Haltung ab.
    Sie entspannte sich, als sie ihre Umgebung genauer betrachtete. Die Rosamond Street lag in einer netten bürgerlichen Wohngegend und wurde von gesichtslosen Mietshäusern aus rotem Backstein gesäumt. Nicht nobel, nicht flippig, nicht beängstigend – eine Gegend, in der Lehrer und Feuerwehrleute und Briefträger mit ihren Familien wohnten, ohne die Dramatik der obersten und untersten Ränge der New Yorker Gesellschaft.
    Sie erreichte Nummer 329 und verharrte kurz vor der Tür, um sich zu überlegen, wie sie vorgehen sollte. Falls sie bei Wohnung 4E schellte und sich ankündigte, würde Travis sie dann hereinlassen? Ihr Problem löste sich von selbst, als ein Mann aus dem Haus kam und ihr höflich die Tür aufhielt.
    Arglose Seele, dachte Manny. Offenbar sah sie nicht bedrohlich aus. In der kleinen Lobby des Gebäudes zögerte sie: alter klaustrophobischer Fahrstuhl oder steile Treppe? Sie kam zu dem Schluss, dass sie bestimmt nicht gerade beeindruckend wirken würde, wenn sie nach Luft japsend bei Travis auftauchen würde, und trat widerwillig in den winzigen Fahrstuhl.
    Eine ruckelnde und knirschende Ewigkeit später hatte sie den vierten Stock erreicht. Als sie den L-förmigen Flur hinunterblickte, um sich zu orientieren, kam eine schlanke Gestalt mit Baseballmütze und Jeansjacke um die Ecke und verschwand in Windeseile die Treppe hinunter.
    »Travis!«, rief Manny und rannte zur Treppe. Am Geländer angekommen, spähte sie nach unten und sah die Person ein Stockwerk tiefer. Unter der Baseballmütze lugte ein Pferdeschwanz hervor, und Manny atmete erleichtert auf. Das war nicht Travis.
    Sie ging weiter den Flur hinunter und bemerkte, dass die dritte Tür auf der linken Seite nur angelehnt war: 4E. Das Gyros schlug einen unangenehmen Purzelbaum in ihrem Magen. New Yorker, selbst diejenigen, die in recht sicheren Gegenden lebten, ließen ihre Wohnungstür nicht einfach offen stehen.
    Vorsichtig schob sich Manny an der Flurwand entlang bis zur Tür. Drinnen war es dunkel, zu dunkel, um erkennen zu können, ob da jemand stand und sie beobachtete. Als Manny sich der Tür bis auf dreißig Zentimeter genähert hatte, hob sie rasch den Arm, stieß die Tür auf und drückte sich dann wieder flach an die Wand.
    Nichts geschah.
    »Travis?«, rief sie. »Travis, ich bin’s, Manny Manfreda, Ihre Anwältin. Ich will Ihnen helfen. Können Sie mich hören?«
    Kein Laut. Keine Bewegung.
    Was nun? Den Notruf wählen? Und dann was sagen? »Hi, mein Mandant

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