Nächte am Nil
aus telefonierte er mit dem Konsulat.
»Ja, schicken Sie Dr. Sikku herüber. Aber ich glaube, auch er kann nur feststellen, daß es der Blinddarm ist. Und was dann? Der Junge kann doch in kein Krankenhaus. Soll ich ihm eine Spritze geben?«
Zareb hörte mit gerunzelter Stirn, was der Partner am anderen Ende der Leitung antwortete. Dann legte er wieder auf und wandte sich zu dem Verwalter um.
»Was sagt er?« fragte dieser. Zareb wischte sich über die Stirn.
»Dr. Sikku kommt in einer halben Stunde. Wir sollen alles vorbereiten.«
»Das Säurebassin?«
»Nein.« Zareb setzte sich und brannte sich mit zitternden Händen eine Zigarette an. »Heißes Wasser. Handtücher. Einen Tisch sollst du sauberscheuern. Wenn es nötig ist, muß er den Jungen hier operieren.«
»Er will ihm den Blinddarm herausnehmen?«
»Ja.«
»Aber warum denn? Es ist doch einfacher, den Jungen …«
Zareb Ibn Omduran winkte ab und saugte an seiner Zigarette. »Warum denken wir, mein Lieber?« sagte er schwermütig. »Politik machen die anderen. Wir sind nur die Flöhe, die man aussetzt, andere zu beißen.« Er erhob sich und ging aus dem Zimmer, um nach Jörgi zu sehen. In der Diele blieb er stehen und sah sich nach dem Verwalter um, der kopfschüttelnd folgte. »Bloß nicht denken, mein Freund, das verdirbt das Leben. Bei uns in der Wüste hat man ein gutes Sprichwort: Ein Kamel ist wertvoller als zehn Menschen. Allah sei's geklagt: Wir sind die Menschen.«
Durch die Tür, über den langen Gang hinweg, hörten sie das Wimmern und Schluchzen des fiebernden Jörgi.
*
Nach zwei Wochen durfte Lore Hollerau aufstehen. Mit verbundenen Augen ging sie am Arm Brockmanns im Garten der modernen Klinik von Assiut spazieren.
Es war, als ahne sie, daß auch nach dem Fallen der dicken Kopfverbände für immer die Nacht um sie bleiben würde. Oft blieb sie stehen, legte den Kopf etwas schief und lauschte auf die Geräusche um sich.
»Das war eine Libelle, nicht wahr?« fragte sie dann. »Sie hat einen langen, spitzen Leib, grün schillernd in der Sonne, und ihre Flügel sind durchsichtig wie aus Seidenpapier. Stimmt es?«
»Ja«, sagte Alf Brockmann dann. Oder auch »nein«, wenn sie sich geirrt hatte. Er gab seiner Stimme einen normalen Klang, obwohl es ihn jedesmal in der Kehle würgte, wenn er Lore so dastehen sah, mit dickbandagiertem Kopf, lauschend und ihre für immer nächtliche Umwelt ertastend. Er versuchte dann zu trösten:
»In vier Wochen kommen die Verbände runter, Lore. Dann sehen Sie wieder dieses schöne und doch häßliche Land.«
»Glauben Sie?« fragte Lore dann. Ihr Lächeln war verzerrt. Eine eben geschlossene, noch rote Narbe zog ihren linken Mundwinkel etwas herunter. Unter dem Verband, das wußte Brockmann, war ihr Gesicht makellos geblieben, und diese eine Narbe konnte man später wegoperieren. Sie hatte durch ihre schnelle Entschlußkraft Glück im Unglück gehabt. Als sie das zischende Paket wegwarf, war es weit genug, ihr Gesicht zu retten … nur ein kleiner Splitter schlug zwischen den schützenden Händen hindurch und zerstörte den Sehnerv. Eine Wunde, die eine kaum sichtbare Narbe zurücklassen würde. Aber die Augen, ihre großen, braunen, kühlen, aber manchmal im Zorn oder beim Lachen aufblitzenden Augen blieben für immer tot. Was blieb, war ihr Gesicht, schön, reif, herb und doch anziehend, aber leer durch die nur noch in der Erinnerung lebenden Augen.
Brockmann dachte an ihr Tagebuch, an die wenigen Zeilen, mit denen sie ihre ganze verborgene und nie sichtbar gewordene Liebe niederschrieb, und er umfaßte ihre Schultern und drückte sie an sich.
»Gehen wir zum Wadi«, sagte er. »Dort ist es kühler.«
Dann saßen sie auf einer rohen Steinbank am Ufer, Lore hörte das Plätschern des seichten Wassers, die Rufe der Araber, das Geschimpfe der Lastträger, das Schreien badender Kinder, das vielstimmige Gewirr, Kommandos vorüberziehender Soldatengruppen, Marschtritt und Waffenklappern, Rinderbrummen und Kamelschreien, das Knarren des alten, riesigen Wasserrades am Brunnen, das von zwei Ochsen mit verbundenen Augen gedreht wurde, und sie faltete die Hände im Schoß und hielt den Kopf gerade, als sehe sie das alles.
Mit Alf Brockmann war eine große Wandlung vorgegangen.
Birgit war tot. Ihre Urne stand nun in seinem Garten unter einem Malvenstrauch. Jörgi lebte bei der Großmutter, die wohl das Kind liebte, aber den Schwiegersohn haßte. Er hatte darüber mit General Assban gesprochen, und dieser
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