Nächte am Nil
herum. Sie sah in ein freundliches Gesicht; nur die dunklen Augen brannten wie bei einem Fanatiker.
»Signora, nächste Bürozeit ab 15 Uhr. Wir können zusammen warten«, sagte der Mann in hartem Deutsch. Birgit spürte, wie in ihr wieder die panische Angst aufglomm. Sie sah an dem Mann vorbei auf die Straße. Sie war leer, die paar Männer in den Haustüren rauchten und beachteten sie gar nicht. Aber am Bordstein parkte ein Wagen, dessen Türen offenstanden.
Mit einem Ruck riß sich Birgit los. Als der Mann wieder zugreifen wollte, sprang sie einen Schritt zurück und trat ihm mit voller Wucht gegen das Schienbein. Mit einem hellen Aufschrei knickte der Mann zusammen und hielt sich an der Hauswand fest, sein Gesicht war schmerzverzerrt, sein Mund aufgerissen. Noch einmal trat Birgit zu, diesmal gegen das andere Schienbein. Sie sah, wie der Mann hinfiel, aus dem Wagen stürzte ein zweiter Mann auf sie zu, und dann lief sie die Straße hinunter, ohne sich umzusehen, mit pendelnden Armen und keuchenden Lungen. Erst als sie auf die Hauptverkehrsstraße kam, die hinunter zum Hafen führte, fiel sie in einen normalen Schritt und lehnte sich nach einigen Metern gegen ein Haus, erschöpft und mit zitternden Knien.
Sie bewachen alles, dachte sie und riß den Mund auf wie ein Erstickender. Ob hier oder in Rom oder in Mailand – überall werden sie stehen. Sie wissen, ich muß einen Paß haben, ohne Paß bin ich ein Nichts. Und sie werden überall verhindern, daß ich einen Paß bekomme.
Was soll ich tun? Mein Gott – was soll ich tun?
Sie ging hinunter zum Hafen und fuhr mit dem nächsten Bus zurück nach Salerno. Franco Bertolli fragte nicht, wo sie gewesen war. Ihm war es recht, daß sie früher zurückkam und die Kartoffeln für den nächsten Tag schälte.
Nur nach Feierabend sagte er: »Signora, wenn Sie Kummer haben, sagen Sie es mir. Ich beobachte Sie jetzt lange genug, ich habe nie etwas gesagt, aber ich habe das Gefühl, daß ich Ihnen helfen könnte, wenn Sie mir alles erzählen.«
»Ich brauche einen deutschen Paß, weiter nichts«, sagte Birgit hoffnungslos.
»Sie sollen ihn haben.«
»Was?« Birgit schnellte von dem harten Schemel, auf dem sie saß, wenn sie Gemüse putzte. »Sagen Sie das noch einmal, Signore Bertolli.«
»Ich kann Ihnen einen Paß besorgen. Sie wissen gar nicht, was man alles bekommen kann. Allerdings kostet er 300.000 Lire – oder 2.000 Deutsche Mark.«
»Also unerreichbar.« Birgit hob hilflos die Schultern. »Ich habe keinen Pfennig.«
»Sie haben zwei Ringe, Signora. Und in Ihrer Reisetasche ist eine Perlenkette.«
»Unmöglich.«
»Zwischen Hauptfach und Nebentasche lag sie im Futter.« Bertolli wiegte den Kopf. »Sie verzeihen, daß ich die Tasche inspizierte. Aber man will ja wissen, mit wem man unter einem Dach wohnt. Die Perlenkette und die beiden Ringe und – sagen wir – einen Monat Arbeit weiter in der Küche, das würde für einen Paß genügen.«
Birgit sah auf ihre Hände. Rechts trug sie den Trauring, links einen schmalen Ring mit einem Brillanten und einem Saphir. Alf hatte ihn ihr zur Geburt Jörgis geschenkt. Die Perlenkette stammte von ihrer Mutter.
»Wann können Sie den Paß besorgen?« fragte sie stockend.
»In acht Tagen vielleicht.«
Birgit nickte. Sie streifte die Ringe von den Fingern und gab sie Franco Bertolli. Als sie den Trauring hinreichte, zitterte ihre Hand.
»Wenn es schneller ginge …«
»Warum, Signora? Denken Sie an den Monat Arbeit, der noch aussteht.«
»Ja.« Birgit senkte den Kopf. Tränen traten ihr in die Augen. Einen ganzen Monat noch. Ob Jörgi ihn überlebte? »Kommen Sie«, sagte sie schluchzend. »Die Perlenkette … Ich nehme nicht an, daß Sie mich betrügen, Signore Bertolli. Ich gebe mich jetzt ganz in Ihre Hand. Sie sind meine letzte Rettung.«
Acht Tage später kam Bertolli mit einem deutschen Paß und überreichte ihn mit großer Geste. Birgit hatte von sich in einem Fotoautomaten ein Bild machen lassen. Als sie nun den Paß aufschlug, sah ihr dieses undeutliche Foto entgegen, noch verunstaltet durch einen amtlichen Stempel.
»Helga Sommer«, las sie. Sie ließ den Paß sinken. »Ich heiße jetzt also Helga Sommer?«
»Ja. Wir mußten einen Paß nehmen, wie er am besten zu Ihnen paßt. Wir können uns keinen Namen aussuchen.«
»Ein gestohlener Paß also?«
Bertolli hob die Schultern. »Man fragt nicht, wenn man etwas dringend braucht … man nimmt es an. Kann man nicht auch unter Helga Sommer leben? Es
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