Nächte am Nil
halbes Pfund in die offene Hand und betrat dann die enge, heiße Straße.
Wohin, dachte sie. Die alte, bange Frage: Wohin jetzt?
Sie lief eine halbe Stunde kreuz und quer durch die Kasbah, die alte Eingeborenenstadt von Alexandria, bestaunt von den Frauen und Kindern, angerufen von den Händlern und Limonadenverkäufern, einmal sogar verfolgt von einem Teppichhändler, der ihr lauthals einen grellroten Läufer verkaufen wollte. Sie sah auf einem kleinen, durchglühten Markt im Schatten eines Torbogens einen alten, blinden Mann sitzen, der die alte orientalische Kunst des Märchenerzählers ausübte. Kinder und auch Erwachsene umhockten ihn und lauschten stumm den alten Märchen von Harun al Raschid, von dem Zauber der Tausendundeinen Nacht und von den Heldenliedern des Mahdi.
Es war ein Glücksumstand, daß sie vor einer alten Moschee ein Taxi sah. Sie ließ sich zurück zum Hafen bringen, aber dann blieb sie doch im Auto sitzen und dirigierte es um zum Bahnhof.
Alf hat einmal etwas vom Nil geschrieben, dachte sie. Damals, als er noch schrieb oder schreiben durfte. »Wenn ich aus dem Fenster sehe, kann ich über die Dächer hinweg den Nil sehen, die großen Segel der breiten Kähne und den Nebel des verdunstenden Wassers. Nachts leuchten Millionen Sterne über dem Fluß und seine Wasser wirken wie mit Diamanten bestickt.« So hatte er einmal geschrieben – vor sieben Monaten. Er hatte also in der Nähe des Nils gewohnt, außerhalb von Kairo, irgendwo an dem großen Strom, der das ewige Leben Ägyptens bildet.
Ich muß zum Fluß, dachte Birgit. Der Gedanke ist verrückt. Eine Frau allein am Nil, die ihren verschollenen Mann sucht. Aber es gab keinen anderen Weg.
Mit dem nächsten Zug fuhr sie nach Kairo. Um Geld zu sparen, fuhr sie in der niedrigsten Klasse, eingezwängt zwischen Bauern, Fellachen, stinkenden Körpern, Hühnerkörbchen, ranzigen Butterwellen sowie staubigen Kleidern und Schweißfüßen.
Die Reisenden waren freundlich zu ihr, nachdem sie sich an die Sensation gewöhnt hatten, daß eine weiße Frau nicht im Luxuswaggon, sondern mitten unter ihnen reiste. Sie bekam süße Kartoffeln angeboten, ölige Datteln, kalten Maisbrei und einen großen Fladen, der süßlich und gut schmeckte. Erst später erfuhr sie, daß er aus einem Teig gebacken war, der aus Maismehl und zerstampften, getrockneten Heuschrecken bestand.
In Kairo ließ sie sich sofort zur deutschen Botschaft fahren – trotz ihrer Angst, es könnte sie auch diesmal jemand aufhalten. Sie atmete erleichtert auf, als nichts geschah. Ein Botschaftssekretär empfing sie und hörte sich ihre Bitte an.
»Alf Brockmann?« fragte er zurück und sah an die Decke, eine beliebte Geste des Menschen, wenn er beweisen will, daß er angestrengt nachdenkt. »Wissenschaftler ist er, sagen Sie? In ägyptischen Diensten? Warten Sie mal, da muß ich meinen Kollegen von der Handelsabteilung fragen.«
Der junge Sekretär telefonierte und legte dann ein wenig betreten den Hörer auf. Er sah Birgit durch seine Brille mit einem Blick voller Mitleid an.
»Sind Sie verwandt mit diesem Herrn Brockmann?« fragte er.
»Nein«, log Birgit. »Aber mit seiner Frau. Ich soll ihm Grüße überbringen.«
»Das ist merkwürdig. Verzeihen Sie. Herr Brockmann ist seit Wochen tot. Autounfall. Seine Witwe hat die Urne mit seiner Asche längst bekommen. Wieso kann sie …«
»Ich war zwei Monate auf Teneriffa.« Birgit legte die Hand auf ihr wild schlagendes Herz. Auch die Botschaft weiß nichts anderes, als daß Alf tot ist, dachte sie wie gelähmt.
»Ach so.« Der Sekretär nickte mehrmals. »Tragischer Fall. Ein begabter Wissenschaftler. Wie gesagt, Autounfall. Ist schon nach Deutschland überführt.«
»Und wo hat er gearbeitet?«
»Warum?«
»Ich möchte ein paar Bilder für Birgit – das ist seine Frau – machen. Zur Erinnerung daran, wo Alf gearbeitet hat.«
»Das dürfte schwer sein, meine Dame.« Der Botschaftssekretär lächelte wie verzeihend. Typisch Tourist. Andenkenknipsen. »Herr Brockmann arbeitete in Fort Gizeh. Aber das ist strengster Militärsperrbezirk. Sie werden kaum so nahe herankommen, daß Sie fotografieren können. Und wenn man es bemerkt, nimmt man Ihnen den Fotoapparat ab. Lassen Sie das bitte sein, meine Dame wir haben nachher bloß die dummen Schwierigkeiten mit der ägyptischen Fremdenpolizei.«
Fort Gizeh … Fort Gizeh … Fort Gizeh … Es war ein Name, den Birgit nie wieder vergaß. Sie murmelte ihn vor sich hin, als sie die
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