Nächte am Nil
und von dem Gesicht. »Ich wohne in Lübeck. Mein Vater ist in Ägypten und baut dort Raketen.«
Die Bäuerin zog die Häkelstola enger um die Schultern und beugte sich zu ihrem Mann vor.
»Er ist verrückt«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Bestimmt ist er aus einer Heilanstalt weggelaufen. Gut, daß die Polizei gleich kommt. Der arme, kleine Junge.«
Bauer Josef legte die Decke um Jörgi und setzte sich neben ihn auf das Sofa.
»Zuerst machst du ihm eine große Tasse heiße Milch, Erna«, sagte er und strich Jörgi die Haare aus der Stirn. »Und 'nen Schlag Honig tuste auch rein. Und dann ein dickes Schinkenbrot. Der Junge sieht ja wie verhungert aus. Verdammt noch mal, auch wenn die Kinder krank sind, sollte man ihnen anständig zu essen geben. Das werde ich auch der Polizei sagen.«
Der Bauer ahnte noch nicht, daß in wenigen Stunden sein Name um die ganze Welt gehen würde.
*
In Kairo, in der Villa ›Roseneck‹, empfing Brahms eine Meldung. Sie war von Hans Ludwigs durchgegeben worden und lautete unverfänglich:
»Drei Tonnen Spezialröhren sind auf dem Wege. Es wäre gut, wenn der Transport überwacht würde.«
Hauptmann Brahms las die kurze Meldung seines Funkers zweimal durch, ehe er zurück in den Nebenraum ging. Dort standen sich Zuraida und Birgit gegenüber wie Amazonen, die sich jeden Augenblick aufeinanderstürzen wollten.
Birgit fuhr herum, als Brahms eintrat.
»Was soll das?« schrie sie. »Ich denke, Sie sind ein Freund? Und dabei entführen Sie mich von einem Gefängnis ins andere! Sie handeln im Auftrag von Zuraida! Oh, wie gemein ihr alle seid. Wie gemein!« Sie wandte sich ab und weinte.
»Diesen Irrtum werden wir gleich aufklären, mein Liebling«, sagte Brahms, als Zuraida ihn hilflos ansah. »Aber vorerst müssen wir einen harten Brocken schlucken. Hier.« Er hob den Telefonzettel hoch. »Freund Hans hat aus Bir Assi Nachricht gegeben. Alles ist zum Kotzen, Freunde. Verzeihen Sie den Ausdruck, Frau Birgit, aber es gibt kein anderes Wort dafür. Ihr Mann …«
»Was ist mit Alf?« Birgit fuhr herum. Es war ein Aufschrei.
»Ihr Mann hat sich selbständig gemacht. Er ist seit dieser Nacht auf dem Weg in die Freiheit. Er ist aus Bir Assi geflüchtet.«
Zuraida schloß entsetzt für eine Sekunde die Augen. »Das ist ja Wahnsinn«, flüsterte sie.
»Wieso Wahnsinn?« Birgit lief auf Brahms zu und klammerte sich an ihn. »Sagen Sie mir die Wahrheit, bitte, bitte. Was hat Alf getan? Warum ist es Wahnsinn?«
»Es gibt nur einen Weg aus Bir Assi … nach Westen, zur libyschen Grenze, durch die grauenvollste Wüste dieser Erde. Und Ihr Mann hat diesen Weg gewählt. Wir sind um wenige Stunden zu spät gekommen. Ich hätte jetzt, wo wir Sie hier in Sicherheit haben, Frau Birgit, für Alf einen anderen Weg gewußt. Nun ist es zu spät.«
»Zu spät …« Birgits Augen wurden starr. »Was heißt: Zu spät?«
Hauptmann Brahms sah über den Kopf Birgits zu Zuraida. Diese wandte sich ab. Auch sie kannte die Antwort.
»Zu spät heißt«, sagte Brahms leise, »daß noch nie ein Mensch diese Wüste durchquert hat. Noch nie. Man kennt sie nur aus der Luft.«
Birgit schloß die Augen. Ihr Kinn sank auf die Brust.
»Alf … Alf wird also nie mehr aus der Wüste zurückkommen?« fragte sie kaum hörbar. »Er flüchtet jetzt in den Tod.«
»Ja. In den sicheren Tod – wenn wir ihm nicht helfen.«
Brahms hob beide Arme, eine Gebärde der Hilflosigkeit. Dann drückte er Birgit an sich und streichelte ihr tröstend über die Haare. »Helfen. Aber wie? Ich habe dazu keine Möglichkeit mehr. Er ist ganze vier Stunden zu früh geflüchtet.« Er riß sich los und hieb mit beiden Fäusten gegen die Wand. »Es ist zum Verrücktwerden!« schrie er in ohnmächtiger Wut. »Da steht man hier herum und kann nichts tun! Gar nichts! Und man muß zusehen, wie ein Mensch in den schrecklichsten Tod rennt, den es gibt, den Tod in der Wüste.«
*
Der fünfte Tag.
Sonne. Glut. Wind. Sand. Einsamkeit. Schnauben der Kamele. Farbloser Himmel. Aufwirbelnder Staub unter den Hufen. Durst. Kurze Rast. Vier, fünf Schluck Wasser. Das Auslutschen einer halben Zitrone. Und dann weiter … weiter … immer weiter in die Unendlichkeit hinein, in das Nichts.
Am Nachmittag hielten sie an, weil Lore Hollerau über wahnsinnige Kopfschmerzen klagte. Sie suchten wieder, wie an allen Tagen, eine Sandhügelsenke, um dort die Kamele abzuschnallen und sich für die Nacht einzurichten. Aisha sah zum Horizont, in die Sonne, auf ihre
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