Nächte am Nil
beim Rückweg, daß er keinerlei Abdrücke in dem Waldboden hinterlassen hatte, stieg in seinen Wagen und fuhr weiter nach Warendorf und von dort nach Münster.
In Münster fand er noch ein Zimmer in einem Hotel, legte sich angezogen aufs Bett und schlief sofort ein.
Sein letzter Gedanke war: Morgen wird es in aller Welt bekannt werden. Und keiner wird das Rätsel lösen. Es war eine Zareb-Arbeit. Zareb, der Mann, der das perfekte Verbrechen erfunden hat.
*
Jörgi wachte auf und lag, als er die Augen aufschlug, erst ganz still und steif in seiner Decke. Er sah über sich gegen den fahlen Nachthimmel die Wipfel der Bäume, ein großes Farnblatt wippte über seinen Augen, es roch nach feuchter Erde und faulenden Blättern.
Wo bin ich, dachte er. Wo ist der böse Mann, der mich bewacht? Wo ist die liebe Schwester? Als ich einschlief, lag ich doch in meinem Bett, in meinem Zimmer.
»Hallo!« rief er zaghaft. »Hallo! Wo seid ihr?«
Niemand antwortete. Da richtete er sich auf und sah sich um. Er war allein. Allein in einem Wald. Angst schnürte seine Kehle zu. Er dachte an die Geschichten von den Räubern, die im dunklen Wald hausten. An das Einhorn, an den weißen Hirsch, an Wildschweine und blutgierige Füchse. Vorsichtig schälte er sich aus der Decke, stand auf und lauschte in die Nacht hinein.
Ein Knacken. Ein Rauschen in den Baumwipfeln. Irgendwo ein leises Tappen.
Jörgi preßte die Fäuste gegen den Mund. Er hatte Angst. Unbeschreibliche Angst. Er wollte schreien, aber noch größer war die Angst, daß er durch sein Schreien die Räuber oder Tiere anlockte.
Ganz langsam, die Decke gegen die Brust gepreßt wie einen Schild, ging Jörgi durch die Büsche bis zum Waldrand. Dort begann eine Wiese, die an eine Straße stieß. Jenseits der Straße lag ein langgestrecktes Haus.
Menschen! Rettung! Ein Haus!
Jörgi rannte aus dem Wald heraus. Einige dunkle Schatten stoben von der Wiese zurück in die schützende Dunkelheit. Rehe, die äsend über die Wiese gezogen waren.
Mit keuchendem Atem, die Hände gegen die schmerzende Operationsnarbe gepreßt, rannte Jörgi auf das Bauernhaus zu. Erst als er im Wirtschaftshof stand, verließ ihn die panische Angst. Er sah sich um, entdeckte die Haustür und drückte auf die Klingel.
Der Ton schrillte durch das stille, schlafende Haus.
Tappende Schritte kamen näher. Licht wurde im Flur angeknipst. Hinter der Tür hörte Jörgi Flüstern. Dann eine laute, rauhe Stimme:
»Wer ist da?«
»Ich«, antwortete Jörgi kläglich. »Ich, Jörgi …«
Hinter der Tür sahen sich der Bauer und die Bäuerin an. Der Bauer hatte in der Faust einen dicken Eichenknüppel, die Bäuerin zitterte unter ihrer gehäkelten, langen Stola.
»Nicht aufmachen«, flüsterte die Bäuerin mit angstgeweiteten Augen. »Das ist eine Falle. Da verstellt jemand seine Stimme. Wenn du aufmachst, schlagen sie dich nieder. Ich rufe die Polizei.«
»Tu das, Erna.« Der Bauer wippte mit dem Eichenknüppel. »Ich halte sie solange hin. Lauf schon!«
Während die Bäuerin im dunklen Zimmer telefonierte, legte der Bauer das Ohr gegen die Tür.
»Wer ist Jörgi?« fragte er laut.
»Ich! Jörgi Brockmann.«
»Ach so. Der Jörgi! Wie alt bist du denn?«
»Fünfeinhalb Jahre. Bitte, machen Sie auf … Ich … ich friere ja so …«
Der Bauer schob die Unterlippe vor. Seine Frau huschte zurück und flüsterte: »Die Polizei kommt gleich. Was sagen sie?«
»Er sei fünfeinhalb Jahre alt.«
»Eine Falle. Nicht aufmachen, Josef.«
Der Bauer Josef brummte etwas vor sich hin und ging nebenan in die Küche. Dort lugte er vorsichtig durch die Gardine und einen Spalt der Klappläden.
Vor der Tür stand wirklich ein Kind. Ein kleiner Junge in einem Schlafanzug, eine Decke in der Hand.
»Es ist tatsächlich ein Kind, Erna!« rief er, als er in die Diele zurückrannte. »Verdammt noch mal! Ein Junge im Nachtpolter! Da stimmt doch was nicht.«
Er riß den Riegel zurück und stieß die Tür auf. »Josef!« schrie die Bäuerin auf. »Sie bringen uns um!«
Dann blieb ihr Mund offen, denn vor der Tür stand wirklich nur ein Kind, mit hängenden Armen, eine alte Decke zu Füßen. Ein kleiner, schmächtiger, weinender Junge.
»Komm rein«, sagte der Bauer und zog Jörgi in die Diele. »Wo kommst du denn her? Mitten in der Nacht. Wer bist du denn? Bist du ausgerissen?« Er führte Jörgi ins Wohnzimmer und setzte ihn auf das alte Sofa.
»Ich bin Detlef-Jörg Brockmann.« Jörgi wischte sich die Tränen aus den Augen
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