Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Naechte am Rande der inneren Stadt

Titel: Naechte am Rande der inneren Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Langer
Vom Netzwerk:
Punkmusik und laszive Tänze, bei denen Eva sich mitschüttelte oder miträkelte
     und ich in der Ecke stand, verlegen rauchte und zusah.
    Der legere Umgang mit dem Sex war für mich eine Qual. Vor Eva hatte ich mit genau zwei Mädchen geschlafen, nachdem ich viele
     Monate mit ihnen
gegangen
war. Um mich herum lebten offensichtlich nur Menschen, die ständig neue Partner hatten, für die Sex wie das tägliche Glas
     Wasser war, wie die Kommunistin Alexandra Kollontai es jedem Menschen als Grundbedürfnis zugesprochen haben soll. Das entsprechende
     Zitat stand auf Postkarten, die eifrig verschickt wurden. Ich fühlte mich manchmal unter Druck gesetzt, es so zu tun wie die
     anderen; doch mir warfen sich die Mädchen nicht gerade an den Hals; meine zurückhaltende Art brachte mich also gar nicht erst
     in Verlegenheit. Eva sagte oft, dass sie genau das an mir liebte, diesen Ernst. Und sie küsste mich so, dass ich es glaubte.
     
    Bei einem der Besuche im Atelier des Malers Theo Hölt hakte Eva mich unter und zog mich zu einem Mann, der etwas älter war
     als wir und der mir schon aufgefallen war.
    Das ist Franz Heumann, mein Professor! sagte sie strahlend, und das ist Konrad!
    Wir schüttelten uns die Hände. Heumann war schlank, hatte schulterlanges, schmutzigblondes Haar, eine schmale Nase und verschmitzte
     Augen. Seine Hände waren auffallend kräftig, und als er bemerkte, dass mein Blick auf sie fiel, sagte er:
    Die eine Hälfte meiner Familie sind Bauern, die andern Musiker.
    |38| Wir lachten.
    Eva übertreibt, sagte Heumann, ich bin gar kein Professor, ich habe nur einen Lehrauftrag.
    Was für ein Unsinn, sagte Eva, er ist der einzig wahre Professor! Zumindest für Gegenwartskunst!
    Heumann fing sofort an zu erzählen. Sein Großvater war Vertreter für Öle und Fette gewesen, so sei er zur Kunst gekommen.
    Ach ja? fragte ich, das müssen Sie mir erklären.
    (Alle duzten sich, ich musste mich erst daran gewöhnen.)
    Er hatte einen Kasten, sagte Heumann, in dem er Proben für die Fette aufbewahrte. Sie rochen ungewöhnlich und hatten fantastisch
     leuchtende Farben, violett, karmesinrot, bernsteinfarben. Ich konnte sie stundenlang betrachten. Mein Großvater fuhr damit
     über Land und bot sie an, für Wagenräder, Haushaltsgeräte, Traktoren.
    Das war Heumanns frühkindliche ästhetische Erziehung, sagte Eva und strahlte uns beide an.
    Heumann hatte, wie ich bald herausfand, gar keinen Abschluss. Aber er war Evas Lieblingslehrer und in meinen Augen immer der
     Professor. Er war es, der mit Hölt und anderen Künstlern befreundet war und seine Studenten dorthin mitnahm; er diskutierte
     mit uns allen vor den abstrakten Bildern über das, was wir darin sahen oder sehen sollten. Er hatte wie Eva eine große Schwäche
     für informelle Malerei, in der ich nur eine wilde Kleckserei entdeckte, obwohl Heumann und Eva sich durchaus bemühten, mir
     die Strukturen darin zu erklären. Unter Strukturen verstand ich etwas anderes, zum Beispiel den Aufbau von Hegels Rechtsphilosophie.
    Nach den Besuchen im Atelier gingen wir oft noch in eine Kneipe mit der ganzen Gruppe, die viel Bier trank und viel redete.
     Heumann hielt zu später Stunde gern Vorträge; am liebsten nach Mitternacht, wenn mir die Augen schon zufielen. Ohne Eva wollte
     ich jedoch nicht fortgehen, also trank ich Kaffee und rauchte eine nach der anderen, um mich wach |39| zu halten. Eva wurde nie müde. Sie saß kerzengerade da und nahm alles auf, was um sie herum geschah.
    Einmal hockten wir wieder in irgendeiner lauten, billigen Eckkneipe, in der es stark nach fettigen Buletten und Bratkartoffeln
     roch, und Heumann hielt einen Vortrag über Kierkegaards ›Tagebuch des Verführers‹. Er versuchte zu erklären, was die
unmittelbaren Stadien des Erotischen,
von denen Kierkegaard sprach, mit dem Unmittelbaren, das sich in einem Kunstwerk dem Betrachter mitteilt, zu tun haben, und
     weshalb Grenzüberschreitungen des sogenannten guten Geschmacks, die sich ebenso unmittelbar mitteilten, für die Kunst existenziell
     seien. Von da kam er auf den japanischen Schriftsteller Mishima und die Lust des Perversen, der seinen Genuss nur dann erlebe,
     wenn er gegen Gesetze verstoße.
    Welche Gesetze? fragte Eva, und alle lachten.
    Ich fand es nicht besonders komisch. Ich fühlte mich schlagartig ausgeschlossen und von seltsamen Ängsten gequält. Alle am
     Tisch hatten plötzlich so ein wissendes Einvernehmen in den Augen, von dem ich nichts verstand. Von Mishima

Weitere Kostenlose Bücher