Naechte am Rande der inneren Stadt
eher grau, vor allem die Wände ohne Werbeplakate; aber Eva sagte, wie schön das wäre, wie fein die Grautöne
wären, und dass vor den Häusern nicht alles vollgeparkt wäre. Ich zuckte die Achseln.
Ich verstehe dich nicht, sagte sie, im Westen klebt dein Auge |42| an jeder alten Mauer, warum siehst du diese Dinge hier nicht? Hier ist doch alles viel greifbarer, die ganze Geschichte.
Weil ich das System hasse, sagte ich. Deshalb will ich hier davon nichts wissen.
Oh, sagte sie und hob die Augenbrauen. Du magst wohl das proletarische Klopapier nicht?
Sehr witzig, sagte ich, zum ersten Mal ärgerlich, du mit deinem empfindlichen Popo wirst das harte Recyclingzeug gerade mögen.
Ich kann Leute nicht ausstehen, die andere einsperren.
Du hast ja recht, beschwichtigte sie mich, und dann verwickelte sie mich in eine unserer komplizierten Diskussionen, an die
ich mich im einzelnen nicht erinnere, über Bonbonpapier und Kommunismus, den »Schwarzen Kanal« und andere klassische Hassobjekte,
weiß der Teufel, was. Ich erinnere mich allerdings genau, dass sie dabei einen buntgescheckten Rock zu hohen Wildlederstiefeln
trug und den taubenblauen, kurzen Pullover, und daran, dass alle sie ansahen. Ihre Lippen waren rosa, und ihre Augen hatte
sie schwarz umrandet. Wir gaben unsere fünfundzwanzig Mark Zwangsumtausch für Bücher und Schallplatten aus, in der Buchhandlung
am Alexanderplatz, wobei ich das Gefühl hatte, den Leuten etwas wegzukaufen.
Eva hatte eine ganze Sammlung Schallplatten der Klassikedition »Eterna«, hergestellt im
VEB Deutsche Schallplatten Berlin DDR
, mit Klavierkonzerten von Tschaikowsky, Prokofieff und Beethoven, mit schönen Zeichnungen von Michelangelo oder gemalten
Porträts der Komponisten vorn auf der Plattenhülle. Sie besaß Schönberg und Händel (je 12 Mark 10, ich kaufte sie mir auch), sowie ein besonders rares Exemplar einer Aufnahme zweier Violinkonzerte von Bach mit Yehudi
Menuhin.
Ich mag Bach fast noch mehr als Janis Joplin, sagte Eva.
Einmal sahen wir uns im Berliner Ensemble ›Maria Stuart‹ in einer uralten Inszenierung an. Eva griff mir im Dunkeln in |43| den Schritt und grinste; ich schubste ihre Hand fort. Wir tranken in der Pause eine rote Flüssigkeit aus Gläsern, deren Ränder
mit Zucker beklebt waren. Eva fand es großartig. Sie flüsterte mir ins Ohr, welche Leute ich mir angucken sollte, und ich
wies sie zurecht wie ein kleines Mädchen. Sie lachte. Natürlich starrten die Leute auch uns an. Eva war einfach eine auffällige
Erscheinung. Und sie lachte immer etwas zu laut.
Ich atmete jedes Mal erleichtert auf, wenn wir die zugige Durchgangshalle mit den hellgelben Kacheln am Grenzübergang Friedrichstraße
hinter uns gebracht hatten und mit der S-Bahn wieder in den Westen hineinfuhren. Mich überfiel regelrecht eine Euphorie, wenn ich die Lichter und Straßen
meiner
Stadt wiedersah. Ich aß Currywurst lieber als Ket-Wurst.
Im Westen gingen wir in die Schaubühne am Lehniner Platz; wir sahen ›Die Fremdenführerin‹ von Botho Strauß, in dem ein Paar
seine Nichtbeziehung diskutierte und Eva mich kichernd anschubste, wenn der Mann über seine Vernunft redete. Wir sahen Stücke
von Tschechow, die ich mochte, weil bei Tschechow alles so schön langsam ging. Seine Stücke endeten immer mit
Komm, an die Arbeit!
Das gefiel mir besonders gut.
Im Nachhinein bin ich erstaunt, wie viel wir in so kurzer Zeit erlebt und unternommen haben. Mein Leben ohne Eva war etwas
eintönig gewesen, ohne dass ich es gewusst hatte.
Es war die Zeit, in der Gorbatschow der NATO vorschlug, die Atomwaffen bis zum Jahr 2000 in einem Dreistufenplan abzubauen,
und radikale wirtschaftliche Reformen ankündigte. Es war die Zeit, in der das Raumschiff
Challenger
nach dem Start explodierte und alle sieben Besatzungsmitglieder starben, darunter zwei Frauen, und die Gegner der Wiederaufbereitungsanlage
in Wackersdorf von einem riesigen Polizeiaufgebot vom Platz gejagt wurden.
Es war die Zeit, in der wir unendlich viel Zeit für die Liebe hatten, und das Leben.
|44| Manchmal wurde Eva im Theater oder im Kino seltsam ernst, und dann bat sie mich, allein nach Hause gehen zu dürfen. Am nächsten
Tag sah sie unausgeschlafen aus. Ich auch. Diese Nächte ohne sie waren schlimm. Ich las Kant und verstand keine Silbe, ich
hörte die Heizung mit einem Knacken an- und ausspringen, in meinem dunklen Zimmer, ich versuchte, Eva zu riechen auf meiner
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