Nächte des Schreckens
von Sheffields und man darf den Teufel nicht mit dem lieben Gott verwechseln...
23. September 1893. Vor dem Schwurgericht von Sheffield wird der Prozeß gegen John Normann eröffnet. Die Behörden haben keine weitere Zeit verlieren wollen, denn der Mord liegt inzwischen vier Monate zurück.
Unter all den Menschen, die sich zahlreich in das Justizgebäude hineindrängen, weiß ein einziger, daß John Normann unschuldig ist, und das ist Wilbur Barnett, der wahre Täter.
Er hat sich schon frühmorgens angestellt, um einen guten Sitzplatz zu ergattern. Und nun lächelt er mit seinen schwärzlichen Zahnreihen, während er den Angeklagten eingehend mustert.
John Normann ist ein magerer junger Mann mit blondem Haar, und sein Gesicht ist ebenso weiß wie sein Hemd. Auf Verlangen des Vorsitzenden erzählt er seine Lebensgeschichte, die kurz und deprimierend ist. Er entstammt einer Bergarbeiterfamilie, doch zu Hause sind sie zu viele, und so findet er sich eines Tages auf der Straße wieder, wo er sich bald einer Bande von Jugendlichen anschließt. Dann steckt man ihn in die Besserungsanstalt, aus der er später flieht, und das ist alles!
Doch für die Geschworenen, die ihm mit einer vorgefaßten Meinung begegnen, ist es offenbar ausreichend. Wenn man so früh auf die schiefe Bahn gerät, kann man später leicht auch zum Mörder werden!
Im Laufe der Verhandlung werden die Vorurteile gegenüber dem Angeklagten von allen Seiten nur bestätigt. Der Polizeibeamte Smith behauptet, ihn eindeutig wiederzuerkennen, und sein ehemaliger Kamerad aus der Besserungsanstalt wiederholt, was John Normann einst zu ihm gesagt hatte: »Die Bullen sind gemeine Schweine. Eines Tages werde ich einen von denen niedermachen...«
Angesichts von so viel belastendem Material kann der unglückselige Normann, der völlig zusammengebrochen ist, nur immer wieder beteuern: »Ich war es nicht, das schwöre ich!«
Die Anklagerede des Staatsanwalts ist eine bloße Formsache. Selbstverständlich fordert er die Todesstrafe. Was Normanns Verteidiger betrifft, so fehlt es dessen Plädoyer entschieden an Überzeugungskraft. Er beschränkt sich darauf, mit matter Stimme Betrachtungen allgemeiner Art über die Größe des Verzeihenkönnens anzustellen.
Und so verkündet der Vorsitzende am 24. September 1893 nach nur zwei Tagen Gerichtsverhandlung den von jedem erwarteten Schuldspruch: »John Normann, Sie sind des Mordes für schuldig befunden und zum Tod durch Erhängen verurteilt worden. Möge Gott sich Ihrer Seele erbarmen!«
Niemand im Saal empfindet das geringste Bedauern, und schon gar nicht Wilbur Barnett, der sich vornimmt, am Tag der Hinrichtung auch dem letzten Akt beizuwohnen.
Zu jener Zeit sind Hinrichtungen in England nicht mehr öffentlich. Sie werden angezeigt, indem genau im Moment der Vollstreckung auf dem Dach des Gefängnisses eine schwarze Fahne gehißt wird. Die Hinrichtung von John Normann ist auf den 18. Oktober 1893 festgelegt worden, nachdem die Königin sein Gnadengesuch abgelehnt hat. Wilbur Barnett gehört zu der kleinen Gruppe von müßigen Gaffern und allerlei Gesindel, die sich vor dem Gefängnis aufgepflanzt hat. Er verspürt eine gewisse innere Unruhe, denn der Morgen graut schon.
Was, wenn in letzter Minute noch etwas dazwischengekommen ist? Wenn es Normann doch noch gelungen sein sollte, den Staatsanwalt von seiner Unschuld zu überzeugen? Dann wäre es mit seiner eigenen Sicherheit aus und vorbei. Er müßte sich von neuem verstecken und um sein Leben zittern. Der Tag ist beinahe schon angebrochen, als Wilbur Barnett einen Schrei ausstößt, während sich die Umstehenden bekreuzigen. Ein kleines schwarzes Rechteck ist soeben auf dem Dach des Gefängnisses erschienen. John Normann ist gehängt worden. Für alle Welt wurde damit der Gerechtigkeit Genüge getan.
Wenn Wilbur Barnett jetzt genügend Realitätssinn gezeigt hätte, so wäre die Geschichte an dieser Stelle zu Ende gewesen, und niemand hätte je die Wahrheit erfahren.
Doch als er in seine armselige Behausung nach Sheffield zurückkehrt, kommt ihm eine verrückte Idee. Die Tatsache, daß ein anderer statt seiner verurteilt und hingerichtet worden ist, läßt ihn glauben, er sei unbesiegbar und werde vom Schicksal besonders beschützt. Und so beginnt er eines Abends erneut, sich das Gesicht mit schwarzer Schuhwichse zu färben, und läßt den >Teufel von Sheffield< aus seinem Versteck herauskommen...
Mehrere Zeugen sehen ihn bei seinen Beutezügen, und auch
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