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Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Carter
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konnte, den Bahnsteig hinunter, öffnete die Tür des Erster-Klasse-Abteils und kletterte hinein.
    »Schau dir nur an, was für eine Schweinerei der auf deinem Kleid angerichtet hat«, sagte Lizzie.
    Das weinende Mädchen warf sich der Frau in die Arme. Es war der finstere Abgrund der Nacht, in den die Mondsichel hinabstürzt. In diesem Abgrund hatte sie ihr zauberisches Schwert verloren.
    Der Stationsvorsteher pfiff und schwenkte die Signalflagge. Der Zug zog langsam, langsam seine riesige Länge aus dem Bahnhof und zerrte dabei seine Last von Träumen mit sich.
    »Ich hab meine Lektion gelernt«, sagte Fevvers. Sie setzte sich auf und riß sich das Armband und die Ohrringe ab.
    Im Gang entstand plötzlicher Lärm: wütender Protest eines kleinen Jungen. Die Tür des Luxusabteils platzte auf und herein kam Walser, in den Armen ein strampelndes und lauthals opponierendes Bündel in Clownskleidung.
    »Tut mir leid, Sie stören zu müssen, Ma’am«, sagte er zu Fevvers, »aber dieser junge Specht hier brennt mir noch nicht mit dem Zirkus durch, noch ein paar Jährchen nicht!«
    Der Zug glitt langsam an einer dick mit frischgefallenem Schnee bestäubten Bahnsteigplattform vorbei. Lizzie ließ das Fenster herunter, daß ein Schwall kalter Luft hereindrang, und Walser ließ das heulende Kind nach draußen fallen, in eine Schneewehe.
    »Jetzt rappel dich auf und lauf gleich heim zu deiner Großmutter!«
    »Und gib ihr die hier!« rief Fevvers.
    Klein-Iwan kugelte in einem Hagel von Diamanten durch den Schnee. Durch unsere Kinder werden wir vielleicht erlöst.
    Der Zug nahm etwas Geschwindigkeit auf. Walser hängte sich aus dem Abteilfenster, bis er ganz sicher war, daß der kleine Iwan nicht weiter hinten am Zug wieder aufgesprungen war, dann zog er das Fenster an seinem dicken Lederriemen nach oben. Als alles gesichert war, wandte er sich zu den Reisenden im Abteil und starrte stumm auf Fevvers, die tränenüberströmt, mit aufgelösten Haaren, das Zigeunerkleid zerrissen und spermaverklebt, nun versuchte, so gut es gehen mochte, ihre bloßen Brüste mit einem schmutzigen, aber unbestreitbaren Gewirr aus Schwungfedern zu bedecken.

TEIL III
    SIBIRIEN

I
    Wie leben die hier? Wie werden sie damit fertig? Oder vielleicht sollte nicht grade ich diese Frage stellen, ich hab grundsätzlich mit Landschaft nichts am Hut, mir wird’s schon auf Hampstead Heath irgendwie komisch. Sobald ich die menschlichen Behausungen nicht mehr sehe, bricht mein Herz durch wie verrottete Fußbodendielen, aller Mut verläßt mich. Parks, ja, die liebe ich, und Gärten. Und kleine Felder mit Hecken und Gräben drumrum und nützlichen Kühen obendrauf. Aber wenn wir schon einen wilden Gebirgsabhang anschaun müssen, dann sollten wenigstens ein, zwei Schafe malerisch auf einem Felsen gruppiert stehen, zur Schur bereit, irgendsowas... Ich hasse es, irgendwo zu sein, wo die Hand des Menschen schlimme Spuren hinterlassen hat, und hier fahren wir über die breite Stirn der Welt, die das Zeichen Kains von Anbeginn eingebrannt bekommen hat, so wie der alte Mann an der Station, der uns die Bären verkaufen wollte, die er geschnitzt hat, und dem sie »Sträfling« auf die Wange gebrannt haben.
    Ich hab ihm alle seine Bären abgekauft, um sie den Kindern zu Hause zu schicken, wenn wir in Wladiwostok sind und ein Postamt zu Gesicht bekommen. Eine billige Geste kann man’s insofern nicht nennen, als er sich die Dinger teuer genug hat bezahlen lassen, muß ich leider hinzusetzen. Und ich mußte mir dann noch allerhand anhören: Lizzie hat sich nicht davon abbringen lassen, daß ich’s »für die Nachwelt« mache, womit sie natürlich meint: damit es der junge Amerikaner bemerkt.
    »Seit er sich in Petersburg wieder bei uns eingeführt hat, hast du dich mehr und mehr benommen wie du selbst«, sagt sie.
    Draußen vor dem Fenster gleitet die unfaßbare und öde Weite vorüber, wo es jetzt Nacht wird; die Sonne geht in entsetzlichem blutübergossenem Glanz unter, und dieser Sonnenuntergang breitet sich wie eine öffentliche Hinrichtung über einen halben Kontinent, wo nur Bären leben und Meteore stürzen und die Wölfe erstarrendes Eis aus dem Wasser lecken, welches in sich den ganzen Himmel beschließt. Alles weiß unter dem Schnee wie Mobiliar unter weißen Staublaken, wie gleich nach der Lieferung auf ewig zugedeckt und weggesperrt, niemals zu benutzen oder zu berühren. Entsetzlich! Und wie bei einem Zyklorama rollt dieses unnatürliche Spektakulum mit etwas

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