Nächte im Zirkus
ist? Man würde die alte Liz glatt für eine Hexe halten. Oder Streichhölzer! Die sogenannten »Lucifers«: die kleinen hölzernen Soldaten des Lichtengels, mit dem man sie in Komplizenschaft glauben würde, wenn man nicht wüßte, was Phosphor ist.
Und wenn ich denke, daß ich einst Milch aus diesen platten alten, trocknen alten Brüsten unter deinem schwarzen Seidenmieder getrunken habe, dann, Lizzie, o ja! dann weiß ich, was du mit »Zauberei« meinst.
Jetzt hört man weiter hinten im Zug, im sogenannten Salonwagen, die Prinzessin das Harmonium ausprobieren. Bruuuumm, brumm, brumm. Ach, welche Ekstasen der Langeweile habe ich auf der Transsibirischen Eisenbahn erlebt!
Nicht, daß der Salonwagen nicht sehr nett ist, wenn es einem nicht dabei graust, durch diese Wildnis, leer wie die präadamitische Welt, in der Reproduktion eines Empire-Salons zu fahren, alles weißlackiert und mit genügend Spiegelglas für ein fahrbares Bordell.
Ich hasse das.
Wir haben kein Recht, hier zu sein, in diesem Komfort, in dieser Gemütlichkeit, mit unseren dicken Hintern auf dieses schnurgerade Gleis geklebt, von dem wir nie abweichen, wie Seiltänzer, die im Traum einen unerkannten Abgrund in behaglichem Fünf-Sterne-Komfort überqueren, durch die Tiefe des Winters, durch diese feindselige Landschaft.
»Kommst dir vor wie der Vogel im goldenen Käfig, ja?« fragte Lizzie, der das unruhige Hin- und Herrutschen ihrer Ziehtochter auffiel. »Wie würdest du denn gerne reisen?«
So direkt gefragt fiel Fevvers keine Antwort ein. Die Sprungfedern sangen unter ihr, als sie sich anders hinhockte, das mürrische Kinn auf den Knien und die muskulösen Hände um die Schienbeine geschlungen. Wie lange knirschen wir schon durch diese leere Zwischenwelt? Eine Woche? Zwei Wochen? Einen Monat? Ein Jahr?
Die Prinzessin kam schließlich zu Streich mit dem Harmonium und spielte darauf eine Fuge von Bach, welche die Tiger verstummen ließ, während die Welt von der Sonne fort kippte, hinein in die Nacht, den Winter und das neue Jahrhundert.
»Denk an dein Bankkonto, Kindchen«, riet Lizzie ironisch ihrer mürrischen Ziehtochter. »Du weißt doch, das heitert dich immer auf.«
Fevvers, ohne Strümpfe und ohne Korsett, in ihrem Unterrock, wühlte nach einer kleinen Schere in Lizzies Handtasche und fing in Ermangelung irgendeiner anderen Tätigkeit an, sich die Zehennägel zu schneiden. Sie bot einen schlampigen Anblick - die Wurzeln der Haare zeigten einen halben Zoll dunkle Färbung, und das ungekämmte Haar verfing sich in dem zerzausten Gefieder, das bereits einen staubigen Eindruck machte. Das eingeschlossene Leben bekam ihr nicht.
Dann, während sie an ihren Zehennägeln herumschnippte und -schnappte, begann sie ohne besonderen Grund - so wie der Zug ohne besonderen Grund angehalten hatte - zu heulen.
Woher soll ich wissen, warum ich plötzlich derart zu plärren angefangen habe? Ich, die ich seit dem Tod von Mutter Nelson nicht geweint habe. Aber jetzt an Nelsons Begräbnis zu denken, ließ mich nur noch lauter heulen, als ob die enorme Trauer, die ich verspürte, die Angst vor der Einsamkeit unseres verlassenen Zustandes in einer Welt, die sich auch ohne uns selbst vollkommen genug ist - als ob meine plötzliche irrationale Verzweiflung sich an einen vernünftig erklärbaren Kummer anklammerte und dort um jeden Preis festhielt.
»Weine!« sagte Lizzie, und an den in ihrer Stimme aufhallenden Echos erkannte ihre Ziehtochter, daß plötzlich ihre Fähigkeit, Dinge vorauszusehen, über sie gekommen war. »Weine, soviel du willst. Weiß nicht, ob du später noch genügend Zeit haben wirst.«
So unerklärlich, wie er angehalten hatte, setzte sich der Zug nun wieder in Bewegung. In der Holzklasse spielten die Clowns unter einem lila Baldachin aus Zigarettenrauch Karten, oder sie schliefen. Eine schwere Schläfrigkeit lag auf ihnen - sie schienen in einem Zustand wie im Koma, im Traum, im Halbschlaf, da und doch nicht da. Gelegentlich bemerkte der eine oder der andere, daß sie nun eine ganze Serie neuer Nummern ohne Buffo ausarbeiten müßten. »Dazu ist noch Zeit genug«, kam die Antwort. Doch die Tage vergingen, und sie taten nichts außer die Karten zu mischen und wieder zu mischen. Der Schaukelpferdrhythmus des Zuges lullte sie in ein Gefühl passiver Zustimmung zu allem, in welchem sie darauf warteten (wenn es auch keiner gestanden hätte), daß ihr Christus auferstünde. So bestand auch keine Notwendigkeit neuer Nummern, keine
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