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Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Carter
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sich und öffnete die Haken und Ösen an ihrem Kleid. Es gab ein sausendes Aufrauschen befreiten Gefieders, und der Großherzog stieß einen leisen Schrei aus. An ihr herumschmatzend bat er sie, sich noch etwas auszubreiten, und sie tat es; gleichzeitig ließ ein tiefer Instinkt der Selbstverteidigung sie seinen Hahn aus dem Hühnerstall hervorholen, auch wenn er nicht darum gebeten hatte, und sie fuhr ihm durchs Gefieder, so wie er ihre Federn begriff.
    Doch zu diesem Zeitpunkt - als ihre Augen durch den schattenerfüllten, zweistöckigen Raum gingen - sah sie, daß nirgendwo ein Fenster war, und als die Arme des Großherzogs sich um sie fester schlossen, erkannte sie, daß er ein Mann von ganz außergewöhnlichen Körperkräften war, der sogar sie zu Boden werfen konnte.
    Dann geschah das Schlimmste, das sie sich im Augenblick vorstellen konnte: seine Untersuchungen ihres Leibes brachten Nelsons Schwert aus ihrem Mieder zutage.
    »Geben Sie das wieder her -«
    Doch er hielt das tödliche Spielzeug außerhalb der Reichweite ihrer Hände, prüfte es neugierig, lachte leise unter seinem Schnurrbart hervor, ehe er sein Knie hochwinkelte, um darauf das Schwert in zwei Stücke zerknacken zu lassen. Er warf die Stücke in hohem Bogen nach rechts und links in die Enden der Galerie, wo sie in der Dunkelheit verschwanden, die wie Wasser durch die Wände hereinsickerte. Nun war sie schutzlos. Sie hätte weinen mögen.
    Unten fuhren die mechanischen Musikanten fort, zu spielen, und das Eis schmolz weiter.
    Sie faßte sich, so gut sie konnte, und ging entschlossen zur nächsten Vitrine, wobei sie weiter an ihm herumspielte, als hinge ihr Leben davon ab. Er bewegte sich langsamer und bemerkte bei seinen seligen Empfindungen kaum, daß sie mit der freien Hand den Glassturz öffnete.
    Und hier fand sie, in einem silbernen Ei, das mit einem Rautengitter aus Amethystsplittern bedeckt war, zu ihrem ungläubigen Entzücken eine Spielzeugeisenbahn - eine Lokomotive in schwarzem Emaille und einen, zwei, drei, vier Erster-Klasse-Waggons aus Schildpatt und Ebenholz, alles wie eine Schlange umeinander aufgerollt, und auf jedem Wagen an der Seite in kyrillischen Buchstaben die Aufschrift: Transsibirische Eisenbahn.
    »Das will ich haben!« rief sie und griff begierig in den Glaskasten. Ihr Ausruf und ihre plötzliche Bewegung rissen der Großherzog aus der Trance, in die sie ihn versetzt hatte, trotzdem sie nicht aufgehört hatte, ihn zu liebkosen; sie hatte nicht umsonst ihre Lehrzeit an Mutter Nelsons Akademie absolviert.
    »Nein, nein, nein«, verbot er ihr den Zugriff, obwohl seine Stimme dicklich vor angeschwellter Erwartung war. Er versetzte ihr einen schwachen Klaps auf die Hand, welche den Eisenbahnzug hielt, doch sie ließ nicht los. »Nicht dieses. Das nächste ist für dich. Ich habe es extra bestellt. Heute morgen ist es geliefert worden.«
    Es war aus weißem Gold und bekrönt mit einem wunderschönen kleinen Schwan - ein Tribut vielleicht an ihre vermutete Herkunft. Und es enthielt - wie sie vermutete - einen Vogelkäfig aus goldenem Draht und darin eine kleine Sitzstange aus Rubinen, Saphiren und Diamanten: die guten alten Farben Rot, Weiß und Blau. Der Käfig war leer. Es saß noch kein Vogel auf der Stange.
    Fevvers verlor nicht den Kopf, doch sie war sich sogleich der furchtbaren Möglichkeit bewußt, daß sie immer mehr in sich zusammensinken, zusammenschrumpfen, kleiner und kleiner werden könnte... Sie sagte dem Diamantenhalsband drunten Lebwohl und versuchte, sich ein Leben als Spielzeug vorzustellen. Mit undurchdringlicher asiatischer Rätselhaftigkeit definierte das Orchester die Geometrie des Unwahrscheinlichen, und an seinem sich mehr und mehr verdickenden Glied, an den nun von selbst erfolgenden Bewegungen dem keuchenden Atem und dem glasigen Blick merkte Fevvers, daß nun wohl die Zeit für den Großherzog gekommen war.
    Ein nasses Krachen und Klappern ertönte, als die Eisstatue ihrer selbst unten in die Überreste des Kaviars stürzte und die Halskette, welche sie in Versuchung geführt hatte, zwischen das schmutzige Geschirr warf. Das bittere Bewußtsein, daß man sie übertölpelt hatte, ließ Fevvers handeln. Sie ließ den Spielzeugzug auf den Ispahanteppich fallen (glücklicherweise landete er auf den Rädern), als der Großherzog, grunzend und pfeifend den angehaltenen Atem ausstoßend, sich ergoß.
    In den wenigen Sekunden, in denen sein klares Bewußtsein aussetzte, rannte Fevvers, so schnell sie nur

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