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Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Carter
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Notwendigkeit. Gib die Flasche rüber, teil die Karten aus. Er kommt zurück. Oder... wir gehn zu ihm.
    Der Colonel aber trottete die Gänge hinauf und hinunter, in ihm kochte die Aufregung des Pfadfinders, dessen, der zuerst einen neuen Weg geht, eine auffällige Gestalt in seinem gestreiften Trikot mit der besternten Weste - »Flagge zeigen«, wie er es nannte. Er hatte umfangreiche Bourbon-Vorräte mitgebracht und lehrte den Steward im Speisewagen bald, einen ganz passablen Julep zuzubereiten, wobei Zweiglein von einem Topf Pfefferminze zur Verwendung kamen, den der Colonel in weiser Voraussicht bei einem Petersburger Gärtner aufgegriffen hatte.
    Bald stand er im Ruf eines »Originals«. Er und sein Schwein fuhren oft vorne auf der Lokomotive mit. Der Lokomotivführer lehnte sich zurück, die Papirossa an die Unterlippe geklebt, und der Colonel durfte sich an der Armatur verlustieren. Doch am meisten gefiel ihm der Besuch bei den Elefanten, denen er Kuchenbrot mitbrachte, das er körbeweise bei den Bauersfrauen mit ihren Kopftüchern an den Bahnhöfen kaufte. Dann meditierte er über dieses glänzende Ereignis: daß er, der gute alte Junge aus Kentucky, den Helden des Altertums, Hannibal den Karthager, besiegt hatte - denn wenn dieser seine Jumbos über die Alpen geführt hatte, hatte er nicht seine Elefantenbullen über den Ural gebracht?
    Selbst für sein optimistisches Auge war es jedoch offensichtlich, daß den Elefanten die Reise nicht gut bekam. Sie waren bequem genug untergebracht, in Stroh gepackt in einem Viehwagen, der für gewöhnlich Einwanderer durch die Taiga transportierte, und um den Komfort der Dickhäuter noch zu heben, hatte man diesen Wagen sogar mit einem Ofen ausgerüstet. Doch die Elefanten glichen nicht länger den Säulen der Welt, fähig, auf ihren breiten Stirnen das Firmament zu tragen. Die kleinen Augen tränten und waren verklebt; manchmal husteten sie. Der Zug fuhr sie tiefer und tiefer in die bittere Kälte, die ihre Lederstiefel durchdringen und ihre Füße erfrieren lassen würde, die ihre Lungen erobern und verwüsten sollte. Weit im Norden, viel weiter nördlich, in dem hohen, unvorstellbaren Norden, dessen vergleichsweise gemäßigter Rand das Gebiet hier war, da lagen ihre Vettern, die Mammuts, vom Eis eingeschlossen... So schien es, daß das Eis auch diese Atlanten der Welt überwältigen wollte, und der Colonel hatte, bei all seiner Blauäugigkeit, einzelne ihn innerlich verwundende Augenblicke des Zweifels, als er sah, daß seine Elefanten schwächer wurden und erliegen wollten. Dann drängte er den Schaffner, mehr Holzkohle in den Ofen zu geben, es war ihnen sicher nur ein wenig kalt, momentan... und was ihre depressive Stimmung anging, na, da würde ein wenig Kuchen Wunder wirken!
    Er ignorierte seine Zweifel wie einen leise schmerzenden Zahn, der still wird, wenn man fest daraufbeißt, und weigerte sich, seinen Augen zu trauen.
    Die Tiger beobachteten seit der letzten Vorstellung die Prinzessin so, wie ihre kleinen unter uns lebenden Vettern einen Vogel in einem Baum beobachten, der zu hoch ist, um ihn zu erklettern. Die Prinzessin bat den Colonel - über Mignon, die jetzt für sie sprach und von Fevvers recht und schlecht übersetzt wurde -, ihr den Salonwagen zur Verfügung zu überlassen, und der Colonel willigte nach langem Kauen auf der Zigarre auf den Rat von Sybil hin ein, die glaubte, ein Tapetenwechsel würde alle vom Gewesenen ablenken. Keiner der Schaffner wagte es von da an, den Salonwagen zu betreten, doch die Tiger wußten auf ihre Art das neue Quartier zu schätzen. Sie rissen mit ihren Pranken die blassen Brokatüberzüge von den Lehnsesseln, machten sich Lager aus dem Inhalt der Polster und hieben spielerisch nach den Ebenbildern in den Spiegeln, welche ihre Streifen vervielfältigten. Mignon lehnte an der Schulter der Prinzessin, und sie probierten ein ganz neues Repertoire aus, passend zum Harmonium: sentimentale Salonmusik, Bach-Choräle, die Hymnen des methodistischen Gesangbuchs, alles, was nur die Tiger beruhigen mochte. Doch die Prinzessin wußte, daß die Katzen ihr nicht länger vertrauten - und, schlimmer, sie selbst traute den Katzen nicht mehr. Sie verzehrte sich in Schuld und Verzweiflung, weil sie ihr Gewehr benützt hatte.
    Der Colonel hörte das Harmonium nicht gern, weil der Gedanke an den Leichnam der Tigerin jene fatale letzte Nacht in Petersburg als ein Crescendo, eine Fuge des Mißlingens ihm ins Gedächtnis zurückrief.

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