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Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Carter
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schlossen. Wie mit einer Bewegung warfen die Wachen ihre Kapuzen ab, die Gefangenen traten heraus, und alle wandten sich zu der Gräfin mit einem tiefen, gemeinsamen Blick des Vorwurfs.
    Sie zog die Pistole hervor, die sie in ihrer Tasche bewahrte, und gab Schuß nach Schuß ab, mit lautem Krachen, aber ohne Widerhall, als die Querschläger von den Steinen und Eisengittern des echolosen Raumes abprallten. Ihre Schüsse fanden ein Ziel: Sie hielt die Uhr an, schoß der Uhr die Zeit ab, zerbrach das Zifferblatt und ließ das Ticken für immer verstummen, so daß ab jetzt die Uhr sie nur an den Zeitpunkt erinnern würde, wo ihre Zeit endete und wo die anderen erlöst wurden. Aber das war Zufall. Sie war zu überrascht, um genau zu zielen, sie verletzte niemand und war rasch entwaffnet, schnatternd und kreischend vor Zorn.
    Sie verschlossen ihre Tür, zogen den Schlüssel ab und warfen ihn in die erste Schneewehe, an der sie jenseits des Tores vorüberkamen. Sie ließen die Gräfin sicher eingeschlossen in ihrem Wachtturm zurück, ohne daß es weiter etwas zu überwachen gegeben hätte außer dem Phantom ihrer eigenen Tat, das sofort durch das offene Tor eintrat, um ihr nun immerfort zu erscheinen, während sie sich auf ihrem Stuhl drehte und drehte.
    Küsse, Umarmungen und der erste Anblick ungesehener geliebter Gesichter. Als die erste Freude vorüber war, faßten die Frauen einen Plan - sie wollten sich zur Bahnstation durchschlagen, da sie keine Karte und nicht einmal einen Kompaß hatten, und dazu der Bahnlinie folgen. Wenn sie dann einmal genau wüßten, wo sie waren, würden sie sich entscheiden, wohin sie gehen sollten - ob sie, wie es einige selbst in der Erschütterung ihrer neuen Liebe wünschten, vier- oder fünftausend Meilen zu dem Dorf oder der Stadt zurückwandern wollten, wo ihre Mütter immer noch für ihre nach dem Gesetz zu Waisen gewordenen Kinder sorgten, ganz gleich, was dann kommen mochte, oder ob sie für sich allein fortgehen und in der endlosen Weite eine Siedlung von utopischer Einfachheit gründen wollten, wo niemand sie finden würde.
    Vera Andrejewna wußte, welchen Platz im Herzen von Olga Alexandrowna der kleine Sohn einnahm, den sie zuletzt mit Milchzähnen gesehen hatte, und sagte nichts.
    Sie waren alle bewaffnet und mit dicken Mänteln und mit Stroh ausgestopften Stiefeln aus der Wachstube ausgerüstet. Sie hatten genügend zu essen dabei. Die weiße Welt um sie herum sah neuerschaffen aus, ein leeres Blatt frisches Papier, auf dem sie jegliche Zukunft niederschreiben konnten, die sie sich wünschten.
    So brachen sie - sich an der blassen Sonne orientierend - Hand in Hand auf und fingen bald an zu singen, vor Glück.

IV
    Als es dunkel wurde, befanden sie sich im Schutze des Waldes und beschlossen, in kleinen Zweighütten zu biwakieren, damit sie sich in der Nacht nicht verliefen. Als sie sich gelagert hatten, bemerkten sie ein rotes Glühen am Himmel über den Bäumen, in Richtung der Eisenbahn. Olga Alexandrowna und Vera Andrejewna wurden mit allgemeiner Zustimmung als Späherinnen ausgesucht und krochen davon, sich, so gut es ging, in Gebüschen verbergend, bis ihnen von einer kleinen Anhöhe aus ein bemerkenswerter Anblick zuteil wurde: ein ganzer Eisenbahnzug, zerlegt wie ein zerbrochenes Spielzeug, die Wagen von einer Explosion zerrissen, welche die Gleise so verbogen hatte, daß sie wie ein von Katzen zerzaustes Strickzeug dalagen. Viele der Wagen loderten noch mit demselben Feuer, das die dem Bahndamm zunächststehenden Bäume in Brand gesetzt hatte, wenn auch anscheinend ein paar wirkungslose Versuche gemacht worden waren, den Brand zu löschen.
    Und zwischen den Trümmern, umgefallen wie riesige Kegel, Außergewöhnliches, Unerhörtes - Wesen, wie Olga Alexandrowna sie einst in der Menagerie des Zaren in ihrer Geburtsstadt St. Petersburg gesehen hat. Elefanten! Genug tote Elefanten, um einen mittleren Friedhof zu füllen; und eine Regung unter den Trümmern ließ sie erkennen, daß eines der großen Tiere noch lebte und beschäftigt war, noch im Sterben Balken und verbogene Räder mit dem Rüssel von hier nach da zu heben.
    Dann, höchst seltsam, Musik, die Klänge von Geige und Tamburin, und Vera Andrejewna zog Olga Alexandrowna hinter einen Baum zurück, um eine seltsame Prozession vorbeimarschieren zu lassen. Und sie zog vorbei, ohne daß die Banditen, die sie bewachten, die Frauen bemerkten, wofür sie dankbar waren. Banditen, vor Waffen starrend. Banditen mit Geiseln:

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