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Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Carter
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Schneewehe, wie Kinder sie aus gestrickten Quadraten zusammennähen.
    »Hier haben wir einen Schatz an nützlichen Dingen, der wie durch ein Wunder gerade für uns in der Wildnis gelassen worden ist!« sagte sie. Sie war eine praktische Frau.
    Nach einem stärkenden Mahl aus Brot und Wurst, das sie mitgebracht hatten und nun in der willkommenen Wärme des Waldbrandes verzehrten, schwärmten sie aus, um zu bergen, was ihnen von Nutzen sein mochte.
    Zuerst fand Olga Alexandrowna die vergoldete Figur eines alten Mannes mit einer Sense, die offenbar von einer zerschmetterten Kiste voll Sprungfedern und kleinen Messingrädchen abgebrochen war. Vera Andrejewna identifizierte die Figur vorsichtig als eine Darstellung der Zeit.
    »Aber wohin wir auch gehen werden, solche Großväter, solche Väter werden wir nicht mehr brauchen«, verkündete sie. Also warfen sie die Figur weg.
    Diesem Gedanken weiter nachgehend bat Vera ihre Freundin, den Vatersnamen nicht mehr zu gebrauchen, wenn sie sie ansprach, was Olga versprach; und auch sie bat ihre Freundin, umgekehrt dasselbe zu tun.
    Unter einem Haufen zerbrochener Lüster und zerfetzter Polster fand Olga als nächstes eine Spiegelscherbe, seltsam mit braunen Streifen auf Orange bemalt. Als sie sie berührte, verbrannte sie sich die Finger. Sie ließ das Stück Glas fallen. Es zerbrach in tausend kleinere Splitter und hinterließ zu ihrem Entsetzen eine Spur rauchender Flüssigkeit im Schnee. Eine abergläubische Angst überkam sie.
    »Laß uns fortgehen von hier«, sagte sie zu Vera.
    »Wohin sollen wir gehen, mein Liebling?«
    Unter den langsam verlöschenden Sternen liefen die Eisenbahngeleise von ihrer feurigglühenden Endstation zurück, zurück, zurück, die tausend, abertausend Meilen nach St. Petersburg, zurück zu dem schmalbrüstigen Mietshaus, wo Olgas greise Mutter vor der Holzkohle unter dem Samowar kauerte und ständig ihre tägliche Mühsal wiederholte, während der kleine Junge, der sich nicht mehr an sie erinnern konnte, draußen in der Gasse spielte - Spiele, die sie sich nicht länger vorstellen konnte. Vera hielt den Blick gesenkt, wie sie es getan hatte, ehe ihre Finger sich berührten. Sie wußte, daß jeder Blick ein Zwang ist, und was immer ihnen noch zustoßen mochte, in diesem Augenblick hatten sie freie Wahl.
    Olga setzte sich voll innerer Unruhe auf einen Stapel Tischtücher, der zum Vorschein gekommen war, als der Elefant den letzten Schrank hinweggeschleudert hatte. Nach den zerbrochenen Überresten von Tischen, Blumenvasen, Flaschen und Bestecken um sie herum zu schließen, mußte dies der Speisewagen gewesen sein. Andere Frauen, zu einem Entschluß gekommen, sortierten die Trümmer der Küche nahebei und legten alle möglichen Dinge zur Seite, die noch nützlich sein würden: Pfannen, Kessel, Töpfe, Messer, alles in Größen, die Gemeinschaftsküchen entsprechen würden.
    Sie trugen Lebensmittelvorräte heraus, Säcke Mehl und Zucker und Bohnen, wenn sie auch die Bratensoße zurückließen, mit der die Küche so reichlich ausgerüstet war. Es gab sogar eine Menge Eier in Drahtkörben, denen die launische Explosion nicht geschadet hatte.
    Unter all dem Geklapper und den Rufen: »Hier ist Erdbeermarmelade!«, »Schaut mal, Schokolade!«, »Ist es zu glauben, Liebe, ein Thermoskübel für Eis!«, glaubten Olgas gefängnisgeschärfte Ohren nun ein Stöhnen zu hören, wie es ein krankes oder verängstigtes Kind ausstoßen mochte, und es schien aus der Stelle zu kommen, auf der sie saß. Sie sprang auf und warf die Tischtücher und Servietten zur Seite.
    So entdeckte sie ihn, einen rotgesichtigen, flachshaarigen jungen Mann in den kurzen weißen Hosen eines Kindes, fest schlafend wie zwischen weißen Laken unter einem Federbett. Sein Atem roch nicht nach Alkohol. Seine Stirn zeigte die Spuren eines Schlags.
    »Wie sollen wir ihn wecken?«
    »Die alten Geschichten schreiben einen Kuß als Kur für schlafende Dornröschen vor«, sagte Vera ironisch.
    Olgas mütterliches Herz kümmerte sich nicht um diese Ironie. Sie drückte ihre Lippen auf seine Stirn, und seine Augenlider flatterten, öffneten sich langsam, und er hob die Arme und schloß sie langsam um ihren Hals.
    »Mama«, sagte er. Dies weltumspannende Wort.
    Lächelnd schüttelte sie den Kopf. Sie sah, daß Walser nicht mehr genügend wußte, um zu fragen: »Wo bin ich?« Wie die Landschaft ringsumher war sein Bewußtsein vollkommen leer.
    Sie hoben ihn auf die Füße, um zu sehen, ob er gehen

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