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Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Carter
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zu Gericht saß, hatte sich entschieden, die Anklage abzuweisen.
    An diesem Abend - nachdem bei der Essensausgabe heimlich, aber reichlich Blicke gewechselt worden waren - fand Olga Alexandrowna einen Zettel im ausgehöhlten Inneren ihres Brötchens. Sie verschlang die Liebesworte begieriger, als sie das Brot gegessen hätte, an dessen Stelle sie getreten waren, und sie waren nahrhafter. Natürlich hatte sie keinen Stift in ihrer Zelle oder Feder und Tinte, doch wie es sich fügte, hatte sie ihre Tage, und (kluge Strategie, die nur der Frau offensteht) sie tauchte ihren Finger in den Fluß, schrieb eine kurze Antwort auf die Rückseite des Zettels, den sie bekommen hatte, und gab sie jenen braunen Augen, die sie nun unter Tausenden, Tausenden von braunen Augen hätte erkennen können, in der unverletzlichen Abgeschlossenheit ihres Kübels.
    An die geheime Stelle in ihrer Zelle malte sie mit dem Blut ihres Schoßes ein Herz.
    Das Begehren, jene Elektrizität, welche die aufgeladene Berührung zwischen Olga Alexandrowna und Vera Andrejewna übertragen hatte, übersprang den tiefen Abgrund zwischen den Wachen und den Bewachten. Oder es war, als ob ein wildes Samenkorn in der kalten Erde des Gefängnisses Wurzel geschlagen hätte und schließlich seine Blüte wiederum Samen um sich verstreut hätte. Die schale Luft des Zuchthauses hob und regte sich, war von Strömen der Ahnung, der Erwartung durchdrungen, die von Zelle zu Zelle die gereiften Samen der Liebe wehten. Die langsame Stunde des Rundganges um den überdachten Innenhof, wo die Wächterinnen mit den Insassinnen Schritt hielten, wo gerade für diese einzige Stunde die Gitterstäbe sie nicht länger trennten, bekam etwas Hochzeitliches, Festliches, als die jenen Samen entsprossenen Blumen schweigend wuchsen, wie Blumen es tun.
    Der Kontakt wurde zuerst durch verbotene Berührung und verbotenen Blick aufgenommen, dann durch verbotene Briefe - oder, wenn Wache oder Insassin sich als Analphabeten herausstellten, durch Zeichnungen auf und mit allen möglichen Materialien, auf Fetzen der Kleidung, wenn es kein Papier gab, in Blut (menstrual oder aus den Adern der Haut), selbst in Kot, denn keine Ausscheidungen der so lange Zeit vereinzelten Körper waren ihnen in dieser Krisis fremd. Zeichnungen, wie man dann sah, grob wie Graffiti, doch mit der Wirkung von Trompetensignalen. Und wenn die Wächterinnen alle durch die subversive Wirkung der Liebkosung, des Wortes, des Bildes die Menschlichkeit der Gefangenen erkannten, so erwachten die Gefangenen zu der Erkenntnis, daß zu beiden Seiten ihrer keilförmigen Raumabteile andere Frauen lebten, ebenso lebendig wie sie selbst.
    Lautlos, heimlich durchdrang - während draußen der nicht wahrzunehmende Herbst zum Winter wurde - eine Wärme, ein Glühen die Besserungsanstalt, eine der Jahreszeit so unangemessene Wärme, daß selbst die Gräfin die Wirkungen des deutlichen Temperaturwechsels im Inneren des Gebäudes bemerkte, so heftig brach ihr der Schweiß aus. Und doch konnte sie, so angestrengt sie auch schaute, nicht eine einzige sichtbare Änderung der mechanischen Ordnung erkennen, welche sie festgelegt hatte, und obwohl sie den Schlaf gänzlich aufgab und ihre Kreisbewegungen einer hysterischen Zufälligkeit unterwarf, so daß es ihr manchmal ganz schwindlig wurde, sie ein andermal aber beinahe eine ganze Minute nach der Uhr unbeweglich dahockte, konnte sie nicht eine einzige verdächtige Einzelheit entdecken.
    Sie kam nie auf den Gedanken, daß die Wachen sich gegen sie wenden könnten - hatte sie nicht ihre Verträge in einer verschlossenen Eisenkiste in ihrem Wachtturm? Hatte sie sie nicht gekauft? War ihnen nicht der Umgang mit den Insassinnen verboten? Verbot sich nicht das Verbotene von selbst?
    Ihre weißen Augen waren nun geädert und rotumrandet. Immer und immer sich drehend trommelte sie nervöse Signale auf die Lehne ihres Stuhls.
    Die Briefe, die Zeichnungen, die liebkosenden Berührungen, die Blicke - alle sagten auf verschiedene Weise »Wenn doch...« und »Ich sehne mich...« Und die Uhr tickte die Zeit eines anderen Lebens, einer anderen Gegend über dem Torbogen, der täglich in ihrer Phantasie sich größer wölbte, bis Uhr und Tor, die für sie das Ende der Hoffnung bedeutet hatten, nun von nichts anderem zu ihnen redeten als von Hoffnung.
    So war es eine Armee der Liebenden, die sich endlich gegen die Gräfin erhob, am Morgen, als sich die Käfige zur letzten Runde um den Hof öffneten - und nie mehr

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