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Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Carter
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Aber Tag für Tag legte sie dem nachsichtigen und gnädigen Richter in ihrem Bewußtsein mildernde Umstände vor, und Tag um Tag machten diese größeren Eindruck auf den Richter. Jeden Abend, ehe sie sich auf ihrem strohgefüllten Polster ausstreckte und einschlief, erkannte er von neuem auf Notwehr, so daß sie zusehends erstaunter war, beim Erwachen sich wieder in ihrer kalten Zelle vorzufinden, wo der Blick der Gräfin über sie hinwegkratzte, wie ein Schürhaken durch die Asche ihres Verbrechens fegend, um dort immer eine tiefere Bedeutung bloßzulegen als nur Notwehr. Dann mußte der Advocatus Diaboli in Olga Alexandrownas Innerem den Antrag zu einer Wiederaufnahme des Prozesses stellen, und sie mußte ganz von vorn beginnen. So vergingen ihre Tage.
    Die Böden der Zellen waren mit Filz belegt und ebenso die Wände, und darüber hinaus waren Wände und Decke in einem Abstand von fünf Zoll mit papierüberzogenem Maschendraht gesichert, damit die Gefangenen sich nicht durch Schläge und Klopfzeichen verständigen konnten. Es herrschte deshalb vollständige Stille an diesem Ort, die gedämpften Schritte der Wärterinnen ausgenommen, denen es verboten war, zu sprechen. Stille bis auf diese Schritte. Und der metallische Klang, mit dem die Durchreichegitter der Zellen geöffnet wurden. Und das fordernde Schrillen der Klingel, die morgens läutete, damit man erwachte, und die Klingel am Abend, die die Anweisung gab, daß es nun zu schlafen galt; die Klingel, die ankündigte, daß das Essen bevorstand, die Klingel, die befahl, die schmutzigen Näpfe und Teller zum Einsammeln bereit zu halten, die Klingel, die das Kommando gab, sich an der Türe aufzustellen und auf den Auslauf auf dem Korridor zu warten, immer um den Hof herum, wobei sich die Gräfin langsam drehte und das Tempo vorgab. Die Klingel, die den Hofgang beendete. Stille bis auf diese Geräusche, und das Ticken der Uhr.
    Schneewehen stiegen an den Außenwänden der Besserungsanstalt empor; der Frühling kam, und der Schnee schmolz, aber die Insassinnen sahen weder den Schneefall noch das Verschwinden des Schnees, und die Gräfin ebensowenig, denn der Preis, den sie für ihre hypothetische Errettung durch indirekte Reue bezahlte, war ihre eigene Haft, und sie war durch ihre eigene Macht ebenso sicher in ihrem Wachtturm gefangen wie die Objekte ihrer Macht in ihren Zellen.
    Diese gnadenlose Frau hielt sich nichtsdestoweniger für die Verkörperung der Gnade (die sie für das Gegenteil der Gerechtigkeit ansah) - denn hatte sie nicht ihre Frauen aus der Sphäre entfernt, wo die notwendigerweise gnadenlose Gerechtigkeit ihrem Geschäft nachgeht: aus dem Gericht, aus dem Gefängnis, und hatte sie in dieses Laboratorium zur Erzeugung von Seelen gesteckt?
    Vom immerwährenden Schauen waren ihre Augen ganz weiß.
    Wie schlief sie? War ihr Schlaf unruhig? Nein, unruhig nicht, doch flüchtig und unregelmäßig, da sie nie gerne ihre Augen schloß, obwohl selbst sie, der es an gewöhnlichster Menschlichkeit fehlte, zwangsläufig ihre Energien auf die gewöhnliche Menschenweise erneuern mußte. Wenn sie aber ein Nickerchen machte, zog sie an ihren Fenstern Rouleaus herunter und ließ das Licht brennen, so daß die Gefangenen nicht wußten, ob sie tatsächlich schlief oder nur so tat - denn manchmal zog sie die Rouleaus herab, wenn sie nicht schlief, um zu beweisen, daß sie der Tyrannei der anderen Augen jederzeit entkommen konnte, wenn sie wollte, daß jene aber nie frei von der ihren waren. Dies war der einzige Spielraum freier Entscheidung, den sie hatte, obwohl sie die Erfinderin und Betreiberin dieser totalen Einschließung war.
    Auch die Wärterinnen waren gefangen, Frauen (denn die Besserungsanstalt war ausschließlich mit Frauen besetzt), deren Leben wie in einer Kaserne inmitten derer verlief, die sie bewachen mußten, und die durch ihre Vertragsbedingungen ebenso sicher festsaßen wie die Mörderinnen. So waren alle in dem Gebäude eingekerkert, doch nur die Mörderinnen wußten dies auch.
    Je länger Olga Alexandrowna die Umstände des Todes ihres Mannes bei sich nachvollzog - in ihrer reichlichen und wie es manchmal schien postumen Muße (denn an diesem Ort fühlte sie sich so gut wie tot) desto weniger fühlte sie sich schuldig. Immer und immer wieder ging sie alles durch, eins nach dem anderen, von Anfang, von der Kindheit in der Mietskaserne an. Ihre erschöpfte Mutter, gebeugt von mühseliger Arbeit, die Heirat, der Sohn, den sie nie mehr sehen würde,

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