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Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Carter
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die Art, wie ihr Mann genüßlich alte russische Sprichwörter zum Ruhme des Weiberprügelns zitierte, der Tag, an dem sie ihren Ehering versetzte, um Essen zu kaufen, nur damit er ihr das Geld für seinen Schnaps fortnahm - mochte der Wodka schuld sein! Der Priester, der sie traute! Mochte der Stock schuld sein, der sie schlug, und die alten Sprüche, die ihn geformt hatten!
    Aber ich bin nicht schuld. Und wie sie sich nun entlastet hatte, mochte der Richter denken, was er wollte - sie zumindest schlief sanft, verbrachte ihre erste ruhige Nacht in dieser Anstalt. Sie war eine Frau von beträchtlicher Intelligenz, welche der Phrenologe als »niedrig-bäuerische Verschlagenheit« klassifiziert hatte. Schnell hatte sie gelernt, das Vorübergehen der Tage festzuhalten, indem sie jeweils mit ihrem Fingernagel einen Strich in den Gips kratzte, welcher das Gitter umgab, durch das hindurch sie und die Gräfin sich gegenseitig beobachteten: dies war der einzige Fleck in der Zelle, der von außen nicht einzusehen war. Obwohl sie, bevor die Situation sie dazu zwang, nie besonders gut im Rechnen gewesen war, hatte sie seit ihrer Ankunft hier bedeutende Fortschritte in einfacher Addition hinter sich, und die geheime Innenfläche war mit den Narben leerer Tage förmlich übersät, als sie - am Morgen nach dem ruhigen Schlaf - zusammenzuzählen begann und herausfand, daß ihr drittes Jahr an diesem Ort vorbei war und das vierte gerade begonnen hatte.
    Da sie alle diejenigen überlebt hatte, die hier gehaust hatten, als sie eingeliefert worden war, war sie nun schon eine alte Insassin. Sie entschied, daß nun die Zeit gekommen war, wo sie sich hier häuslich einrichten und sich umsehen würde.
    Nun war es eine strenge Regel, daß die stummen Wärterinnen bei der Verteilung der Mahlzeiten Kapuzen tragen mußten, Kapuzen, die alle Züge des Gesichtes verhüllten außer den Augen, da selbst die Gräfin das Zugeständnis machen mußte, daß sie sehen müßten, wohin sie die Füße setzten. Doch sie wollte, daß sie anonyme Werkzeuge blieben, ohne persönliche Eigenschaften zu zeigen, die in die Isolation der Häftlinge dringen könnten, und deshalb hoben sie nie die Augen und hielten die Blicke auf den Boden gesenkt, bei der Morgenmahlzeit wie am Abend und ebenso, wenn sie die Käfige öffneten, damit die Frauen sich Bewegung machen konnten.
    Doch ihre behandschuhten Hände waren in Gefahr, wenn sie die Tabletts durch die Öffnung im Gitter schoben. Olga Alexandrowna, die in ihrem einstigen Leben den Beruf einer Näherin gehabt hatte, besaß schöne, schmale Finger und außerdem eine gesellige Natur. Waren ihr auch Sprache und Blick versagt, so dachte sie doch, es könnte ihr gelingen, eine dieser Mitgefangenen zu berühren - denn Olga Alexandrowna, die dasaß und nachdachte, saß und dachte, während die Uhr die Tage tickte, die zu Wochen, Monaten, Jahren wurden, war zu dem offensichtlichen Schluß gelangt, daß die Wachen ebenso Opfer der Anstalt waren wie sie selbst.
    An diesem Morgen wartete sie, an der Öffnung sitzend, auf ihre Mahlzeit, ein Auge auf die kreisende Gräfin gerichtet, eines auf die Uhr, und als der Minutenzeiger auf die Stunde ruckte, als die Klingel ertönte und das Gitter an der Öffnung sich mit einem metallischen Knirschen hob, schob sie ihre schöne Hand (denn es war eine schöne Hand) in die Öffnung und ergriff die Hand in dem Lederhandschuh, die von der anderen Seite das Tablett hereinschob.
    Unter der Berührung der weißen Finger von Olga Alexandrowna erzitterte die Hand in dem schwarzen Handschuh. Mit wachsendem Mut drückte Olga Alexandrowna das Leder mit wärmerem Griff. Mit einer Kühnheit jenseits aller Erwartungen von Olga Alexandrowna hob die Frau mit der Kapuze ihren Blick, bis ihre Augen die Augen von Olga Alexandrowna trafen, die nun ihren Blick fest auf sie gerichtet hatte.
    Dann schrillte die Klingel, und das Gitter klirrte herunter, und Olga Alexandrowna kam um ihr Frühstück, weil das Tablett außen vor der Zelle hinfiel und der Brei auf den Boden floß, aber das war ihr gleich.
    Obwohl das Licht hinter den Rouleaus brannte, mußte die Gräfin einen Augenblick lang eingenickt sein, denn sie sah diesen stummen Austausch nicht, wenn auch sie beide einander deutlich sahen. Und dies war der Moment, schon bevor das Tor sich öffnete und sie alle ziehen ließ (wie es nun nach dieser Berührung früher oder später geschehen mußte), da Olga Alexandrowna wußte; wer immer nun in Wahrheit über sie

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