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Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Carter
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konnte. Nach ein paar Versuchen und Anleitungen begriff er, wie es ging, und lachte laut vor Freude und Stolz, als er mit zunehmendem Selbstvertrauen zwischen den Armen von Olga und Veras weniger willkommenden Armen hin und her wackelte, bis er es schließlich alleine konnte. Kurz danach entdeckte er Empfindungen in sich. Er rieb mit kreisförmigen Bewegungen die Hand auf seinem Bauch und suchte in der Leere, wo sein Gedächtnis gewesen war, konnte aber nichts finden, was er hätte sagen sollen. So rieb er weiter.
    Olga Alexandrowna fand ein Gefäß mit Milch in der Küche, brockte Brot hinein und ließ ihn davon etwas aus ihren Fingern nehmen, da er nicht mehr wußte, wie er einen Löffel gebrauchen sollte. Er freute sich über alles und gurrte, sich mit großen runden Augen umsehend. Als er mit Brot und Milch fertig war, rieb er sich wieder den Bauch, um zu sehen, was es diesmal wohl geben würde. Olga Alexandrowna hob den Drahtkorb mit den Eiern hoch.
    »Will er vielleicht ein gutes Ei-Ei haben?«
    Der Anblick der Eier setzte das Chaos hinter seinen Augen in Bewegung. Die verschiedensten Verbindungen schlossen sich. Auf die Zehenspitzen sprang er und schlug mit den Armen.
    »Kikerikiski!«
    »Armer Kerl«, sagte Olga Alexandrowna. »Hat den Verstand verloren, möge der Herr über ihn wachen.«
    Dann drang ein schrilles Pfeifen durch die Nacht, und in weiter Ferne sahen sie die Funken und das Glühen des Tenders einer Lokomotive, die vom Bahnhof in R. herangerollt kam, und sie erkannten die Umrisse von Männern mit Fackeln, Laternen, Stricken und Äxten, die neben der langsam fahrenden Lok einhergingen. Die weiße Schürze einer Krankenschwester blinkte auf, als sie sich aus dem Führerhaus beugte, um zu sehen, was für Arbeit vor ihr lag. So war die Entscheidung schon für Olga Alexandrowna gefällt, und alle beeilten sich, wichtige Werkzeuge und Utensilien zu Bündeln zu schnüren und sich damit in die Wälder zu schlagen, zu der leuchtenden Ungewißheit von Liebe und Freiheit.
    Olga stach eilig mit einer Nadel in ein Ei und gab es Walser zum Aussaugen, was er eifrig tat.
    »Kikeriki!«
    »Ich lasse das arme Wesen ungern zurück«, sagte sie zu Vera.
    »Er ist ein Mann, auch wenn er den Verstand verloren hat«, sagte Vera. »Wir kommen ohne ihn aus.«
    Immer noch zögerte Olga, als dächte sie, daß es irgend etwas Nützliches geben müsse, was dieser junge Mann für sie tun könnte... doch die Zeit war abgelaufen. Als sie Walser zum Lebwohl küßte, küßte sie zum Abschied ihren eigenen Sohn und die ganze Vergangenheit. Die Frauen verschwanden.
    Walser kauerte über dem Eierkorb, mußte aber entdecken, daß die Eier leicht entzwei gingen. Ärgerlich trat er den Korb, daß er umfiel, und hatte ein wenig Spaß daran, wie die ganzgebliebenen Eier herumrollten. Das Rettungskommando näherte sich in gemessenem Tempo, denn wie groß auch der Notfall sein mochte, die archaische Maschine fuhr nur mit greisenhafter Geschwindigkeit. Walser amüsierte sich weiterhin damit, auf die rollenden Eier zu springen und sie zu zertreten, aber allzuviel Spaß brachte das nicht. Gelangweilt schlug er wieder mit den Armen.
    »Kikeriki! Kikerikiski!«
    Als ihm klar wurde, daß die freundlichen Damen alle fort waren, strömten die Tränen ungehindert aus seinen Augen. Wie ein Hahn krähend und mit den Armen auf und ab flügelnd rannte er davon und lief auf der Suche nach ihnen in die Bäume, doch bald vergaß er seine Suche, so verzauberte ihn der Anblick des in Fleckenmustern auf dem Schnee spielenden Sternenlichtes.

V
    Sobald wir dem Zug den Rücken kehrten, hörte er zu existieren auf. Wir waren in eine andere Welt gezogen worden, ins Herz eines vergessenen Reiches, von dem wir keine Karte besaßen.
    Tiefer und tiefer führten sie uns in die Ränder des Waldes hinein, der uns nicht hastig verschlang, sondern uns mit uralter Geduld langsam verzehrte. Ich brauchte lange Zeit, um mich einigermaßen zu fassen, und da staken wir schon so tief in seinem Bauch wie Jona im Wal und in beinahe ebenso undurchdringlicher Dunkelheit, denn die engstehenden Zweige der Nadelbäume löschten den Himmel aus - nur wenn ein Klumpen von dem Schnee, mit dem das Gezweig bedeckt war, uns wie der Kot von großen Kaltblütler-Vögeln auf die Köpfe fiel, zeigten sich ein paar Fetzen roten Scheins von dem Feuer, das wir verlassen hatten, durch die Lücke und malten die Nachtwolken blutig an.
    Unsere Führer, deren Absichten mir von einem Augenblick zum

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